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    Wer mit den Verrätern gemeint war, weiß ich nicht – wahrscheinlich diejenigen, die ja eigentlich immer schon Widerstandskämpfer gewesen waren, vermutlich schon bevor die Nazis überhaupt an die Macht kamen, und die das nur vorübergehend geschickt verborgen und so getan hatten, als seien sie dabei – aber in Wirklichkeit hatten sie sich heldenhaft widersetzt. War da nicht einer öffentlich mit dem katholischen Gesangbuch in der Hand über die Straße gegangen? Hatte nicht einer sich geweigert, über einen Judenwitz zu lachen? (Wahrscheinlich, weil er ihn schon kannte…) Und hatte nicht ein Dritter schon mal den Feindsender BBC gehört?
 
    Als die braunen Bataillone endlich aufgehört hatten zu marschieren, als die morschen Knochen nicht mehr zitterten, sondern hüben wie drüben einfach unter ihren verwesenden Fleischfetzen zerfielen, als die Fahne nicht mehr hochging, sondern zerrissen am Mast hing, als die Reihen nicht mehr fest geschlossen waren, sondern sich in panischer Flucht auflösten, als im Führerbunker das letzte Licht ausgegangen war, da standen sie auf einmal da, schienen sich durch den Schlamm der Geschichte zu bohren, selbst ernannte Helden, Wendehälse des Untergangs, Streckenposten an den Landebahnen des Zeitgeists – es gab viele von ihnen, ein paar zu viel von der Sorte, die  als Trittbrettfahrer hofften, etwas von dem Respekt, der Dankbarkeit, der hilflosen Zuneigung abzubekommen, die sich Menschen wie die Geschwister Scholl verdient hatten.
 
    Ich kann meinem Vater manches vorwerfen, nicht aber, dass er nicht zu seiner Überzeugung gestanden hätte und zu dem, was er getan hat. Er hat dafür bezahlt, und von dem Faustschlag der Geschichte, der ihn 1945 zu Boden geworfen hat, hat er sich nie mehr erholt, aber er hat sich auch nie selbst verraten.
 
    Manchmal in diesen Tagen, in den Stunden ohne Schlaf, in denen ich versuche meinen Vater zu finden, stelle ich mir vor, was ich empfinden würde, wenn ich mein Leben einer Idee geweiht hätte und nun sehen müsste, wie mein Sohn diese Idee beiseite schiebt, verachtet, im Gefühl der moralischen Überlegenheit dessen, der sich auf der Seite der Sieger glaubt.
 
    Einmal nur, ein einziges Mal habe ich erlebt, wie ein Moment des Zweifels in ihm aufblitzte, wie sich vor all die Ideologien und Zahlen ein Gesicht schob – das Gesicht eines jungen Mädchens. Rahel hieß sie und war eine Freundin meiner Schwester Gundula, 15 Jahre, ein bildhübsches Mädchen mit großen, fragenden, runden schwarzen Augen. Mit schwarzen Augen – denn sie war Jüdin, die Tochter des Kantors der jüdischen Gemeinde, die es seit einiger Zeit wieder gab.
 
    Nachdem Rahel wieder gegangen war, blieb mein Vater eine Zeit lang sehr still, und dann auf einmal brach es aus ihm heraus, so als sei der Damm geflutet worden, den die Ingenieure des Bösen vor seine Seele gelegt hatten, wo Liebe, Mitgefühl, Menschlichkeit im Verborgenen auf ihre Befreiung warteten.
 
    „Mein Gott“, sagte mein Vater endlich, „mein Gott, wenn ich mir vorstelle, dass auch dieses Kind ins Gas geschickt worden wäre – was für ein Wahnsinn! Was für ein Wahnsinn!“

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II.

9. Jänner:

     Heute kann natürlich nur von Gundula, dem Geburtstagskind, die Rede sein. Einen großen Kuchen mit Lichtern, einen Ele­fanten und ein Bilderbuch, nach einer Stunde schon zerrissen war, gab es für sie, Wenn sie auch den Festakt keineswegs verstand, fühlte sie sich doch wichtig und war strahlend. Von dem Kuchen packte sie beide Fäustchen voll und hätte dringend eine dritte Hand gebraucht. Wie soll man nur den Liebreiz des Kindes schildern?

     Da kommt sie hereingetrippelt -  nein, Gundel trippelt nicht, sie schrei­tet oder wandelt. Leidenschaftlich gern kommt sie ins Zimmer zu Oma und Tante Inge. Ja, sie kann schon Tante Inge sagen, aber sie wählt doch lieber das vertrauliche „Inge“, denn wir stehen sehr gut miteinander. Begeistert ist sie, wenn ich mit ihr turne, dann könnten wir uns beide totlachen vor Vergnügen. Unermüdlich klettert sie vom Sessel aufs Sofa, wobei sie beherzt einen Riesenschritt machen muss, vom Sofa auf die Chaiselongue. Dann versteckt sie sich unter dem Tisch, unter dem Büchergestell und hinter dem Ofen. Wenn das Radio Tanzmusik überträgt, versucht sie zu tanzen und wiegt sich mit verklärtem Gesicht hin und her. Dann streckt sie die Ärmchen zu mir auf und ich nehme sie auf den Arm und tanze mit ihr. Gundelchen ist selig dabei, eine Seligkeit, die tiefer geht als alles andere, denn ihr Gesichtchen ist ganz ernst. Sie ist äußerst leicht zu lenken, die Kleine. Wenn sie etwas angestellt hat, findet sie jede Strafe absolut berechtigt und ist dann gleich wieder gut. Immer gibt es etwas an ihr zu putzen: das Rotznäschen oder das Schmier­mäulchen - oder ist am Ende gar das Höschen nass?

     Wenn man Gundula ruft, so antwortet sie mit ihrem melodischen Stimmchen mit: „Ja, ja!“

     Wenn man den Ruf wiederholt, so tönt es geflissentlich zurück: ,,Komm ßon!", worauf sie tatsächlich eilig angelaufen kommt.


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