Startseite
Ich über mich Olympia 1972
Essener Songtage 1968
Veröffentlichungen
Bitte auf deutsch!
Verweise ("Links")
Texte 
Gästebuch


11. Jänner

       Heute hatten wir zum ersten Mal seit vielen Wochen wieder Butter auf dem Frühstückstisch. Mutter und ich frühstückten aus­nahmsweise allein, als Waltraut, die mit ihrem Frühstück schon fertig war, hereinkam. Wir hatten noch etwas Wurst vom Abend und Waltraut sollte auch ein Stückchen Wurstbrot abbekommen:

     „Aber, Oma, gibt mir das Brot ohne Butter! Ich habe ja schon Butter bei meinem Frühstück gehabt.“

     Für die Charakterbildung der Kinder ist dieses karge Leben sicher gut. Sie sind nicht gierig und sind gewohnt zu teilen.

                                  *********************************************                     

     So sah Tante Inge die Welt. Wir haben sie immer bewundert für ihre Fähigkeit, der schlimmsten Lebenslage etwas Gutes abzugewinnen, sich zu bescheiden mit dem, was man hatte und was möglich war und dabei zufrieden zu sein. Unvergesslich werden mir ihre letzen Tage sein, als sie, schon weit über 97, den Sturz tat, der sie schließlich das Leben kostete: Mit gebrochenem Arm und Oberschenkelhals lag sie im Krankenhaus, betreut von einer Krankenschwester aus Ghana - und da erfasste sie unter all ihren Schmerzen doch ein Gefühl der Dankbarkeit: „Mir geht’s gut“, sagte sie, dankbar dafür, dass sie in einem ordentlichen Krankenhaus behandelt, dass sie gepflegt wurde, dass sie also nicht das Schicksal Zehntausender afrikanischer Menschen teilen musste, die keine solche Behandlung erfahren konnten. In einer Welt von Egoismus, Jugendwahn und Konsumrausch erschien sie wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.

     Ein bisschen zu optimistisch war ihre Weltsicht aber doch wohl, denn die kargen Jahre haben durchaus ihre Spuren in mir hinterlassen. „All you can eat“, „all-inclusive“ – diese Zauberformeln des modernen Genießer-Tourismus beschwören jedes Mal die unseligen alten Zeiten herauf, die Angst, zu kurz zu kommen. Die kalten und warmen Buffets bauen sich vor mir auf als teuflische Versuchung, und da ich wie Oscar Wilde allem widerstehen kann außer einer Versuchung, ist es jedes Mal um mich geschehen: Ich häufe den Teller voll mit Antipasti und Räucherlachs, mit Forellenfilets und Frikadellen, mit Scampi und Pampi und Braten und Salaten, mit Lammnüsschen und Erdnüsschen, mit Knoblauchbutter und Bärlauchschinken, und weil ich weiß, dass ich das eigentlich alles gar nicht essen sollte, weil ich eh 10 Kilo zu viel auf die Waage bringe, schlinge ich es herunter, immer in der heimlichen Sorge, jemand könnte es mir doch noch wegnehmen und selber essen, und weil ich dann immer so schnell fertig bin, gehe ich ein zweites Mal zum Buffet und nehme jetzt die Hackbällchen an einer Curry-Creme-Sauce und die Truthahnbrust auf einem Ingwer-Morchel-Nest und die Dörrpflaumen in Armagnac im Speckmantel und bin eigentlich schon längst satt und nehme trotzdem immer wieder, damit kein anderer es nimmt, und weil ich gelernt habe, dass gegessen wird, was auf den Tisch kommt, esse ich alles auf und habe ein furchtbar schlechtes Gewissen dabei, aber noch schlechter wäre es, wenn ich nicht alles aufgegessen hätte, und ich verfluche die Zauberformeln des modernen Genießer-Tourismus und schwöre mir, am nächsten Tag ganz bescheiden zu bleiben, und dann geht es am nächsten Tag von neuem los, weil nämlich diesmal die Lammfilets in einer unglaublich köstlichen Knoblauch- Weißwein-Marinade gelegen haben und danach schreien gegessen zu werden – von mir gegessen zu werden.

     Und mein Gewissen schweigt und zieht sich beleidigt zurück.

                                                                                   *********************************************