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Ich über mich | Olympia 1972 |
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Texte |
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11.
Jänner „Aber,
Oma, gibt mir das Brot ohne Butter! Ich
habe ja schon Butter bei
meinem Frühstück gehabt.“
Für die Charakterbildung der Kinder ist dieses
karge
Leben sicher gut.
Sie sind nicht gierig und sind gewohnt zu teilen. *********************************************
So sah Tante Inge die Welt. Wir haben
sie
immer bewundert für ihre Fähigkeit, der schlimmsten
Lebenslage etwas Gutes
abzugewinnen, sich zu bescheiden mit dem, was man hatte und was
möglich war und
dabei zufrieden zu sein. Unvergesslich werden mir ihre letzen Tage
sein, als
sie, schon weit über 97, den Sturz tat, der sie schließlich
das Leben kostete:
Mit gebrochenem Arm und Oberschenkelhals lag sie im Krankenhaus,
betreut von
einer Krankenschwester aus Ghana - und da erfasste sie unter all ihren
Schmerzen doch ein Gefühl der Dankbarkeit: „Mir geht’s gut“, sagte
sie, dankbar
dafür, dass sie in einem ordentlichen Krankenhaus behandelt, dass
sie gepflegt
wurde, dass sie also nicht das Schicksal Zehntausender afrikanischer
Menschen
teilen musste, die keine solche Behandlung erfahren konnten. In einer
Welt von
Egoismus, Jugendwahn und Konsumrausch erschien sie wie ein Relikt aus
einer anderen
Zeit.
Ein bisschen zu optimistisch war ihre Weltsicht
aber doch wohl, denn die kargen Jahre haben durchaus ihre Spuren in mir
hinterlassen.
„All you can eat“, „all-inclusive“ – diese Zauberformeln des modernen
Genießer-Tourismus beschwören jedes Mal die unseligen alten
Zeiten herauf, die
Angst, zu kurz zu kommen. Die kalten und warmen Buffets bauen sich vor
mir auf
als teuflische Versuchung, und da ich wie Oscar Wilde allem widerstehen
kann
außer einer Versuchung, ist es jedes Mal um mich geschehen: Ich
häufe den Teller
voll mit Antipasti und Räucherlachs, mit Forellenfilets und
Frikadellen, mit
Scampi und Pampi und Braten und Salaten, mit Lammnüsschen und
Erdnüsschen, mit
Knoblauchbutter und Bärlauchschinken, und weil ich weiß,
dass ich das
eigentlich alles gar nicht essen sollte, weil ich eh 10 Kilo zu viel
auf die
Waage bringe, schlinge ich es herunter, immer in der heimlichen Sorge,
jemand
könnte es mir doch noch wegnehmen und selber essen, und weil ich
dann immer so
schnell fertig bin, gehe ich ein zweites Mal zum Buffet und nehme jetzt
die Hackbällchen
an einer Curry-Creme-Sauce und die Truthahnbrust auf einem
Ingwer-Morchel-Nest
und die Dörrpflaumen in Armagnac im Speckmantel und bin eigentlich
schon längst
satt und nehme trotzdem immer wieder, damit kein anderer es nimmt, und
weil ich
gelernt habe, dass gegessen wird, was auf den Tisch kommt, esse ich
alles auf
und habe ein furchtbar schlechtes Gewissen dabei, aber noch schlechter
wäre es,
wenn ich nicht alles aufgegessen hätte, und ich verfluche die
Zauberformeln des
modernen Genießer-Tourismus und schwöre mir, am
nächsten Tag ganz bescheiden zu
bleiben, und dann geht es am nächsten Tag von neuem los, weil
nämlich diesmal
die Lammfilets in einer unglaublich köstlichen
Knoblauch- Weißwein-Marinade
gelegen haben und danach schreien gegessen zu werden – von mir gegessen
zu
werden.
Und
mein Gewissen schweigt und zieht sich beleidigt zurück.
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