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   28. Jahrgang                                            München, Dienstag 5. September 1972                                             Preis 10 Pf
 

                                  Ausschnitt aus der Reportage von Lothar Loewe (ARD)

Unterschriftensammlung beim IOC

VON HERBERT RIEHL-HEYSE

Als der Termin des Ultimatums verstrichen war, wurden die Reaktionen in der Halle des Hotels lebendiger. Ideen wurden geboren: Prinz Georg von Hannover, deutsches, IOC-Mitglied, verlangte, Funktionäre des deutschen NOK, an der Spitze Willi Dau- me, sollten sich den Terroristen als Geiseln zur Verfügung stellen. Die olympische Flagge müsse auf halbmast gesetzt werden. Für einen Abbruch der Spiele war er freilich ebensowenig wie sein Kolle- ge aus der DDR, Heinz Schöbel. Brundage selbst schien wenig Lust zu haben, seine Kollegen zu einer Sondersitzung zusammenzurufen und über einen Abbruch der Spiele zu beraten. Die zwei Vize- präsidenten des IOC — darunter Brundages designierter Nachfolger Killanin - die noch am Freitag in Kiel waren, sollen von Brundage aufgefordert worden sein, bei den Seglern zu bleiben. Ohne die Vizepräsidenten kann das Exekutivkomitee gar nicht tagen.
Freilich schien es um dieselbe Zeit so, als ob die Taktik des Präsi- denten, sich mit der Sache nicht zu befassen - offensichtlich Ausfluß der Funktion, der Sport habe mit Politik nichts zu tun - keinen Erfolg haben würde: Das französische IOC-Mitglied Maurice Herzog, ehe- mals französischer Sportminister, sammelte bereits Unterschriften, um doch eine Sondersitzung zustandezubringen.
Ein englisches IOC-Mitglied unterschrieb unter Protest: „Das ist nicht unsere Sache, sondern Sache der deutschen Bundesregierung.“

Aus dem Fernsehgerät, das in der Hotelhalle des „Vier Jahreszeiten“ aufgestellt ist, erfuhr das österreichische IOC-Mitglied Dr. Rudolf Ne- metschke gegen 11 Uhr, daß er sich - mit seinen Kollegen - gerade in einer  Sondersitzung  mit  der  Frage befasse, ob die Spiele nun abgebrochen würden.  Der Nachrichtensprecher  wußte zu viel: 



Nemetschke wie die anderen IOC-Mitglieder warteten, statt sich zu treffen, den ganzen Vormittag auf ihren Präsidenten Brundage und hatten im übrigen keine Ahnung, wie es nun weitergehen solle.
Als sich herumzusprechen begann, daß Brundage über ihren Kopf hinweg sich bereits für die Fortsetzung der Spiele ausgesprochen hatte, schienen die Herren freilich über solche Desavouierung nicht traurig zu sein. Im Gegenteil: Soviel zu hören war, waren sie alle der gleichen Meinung wie Brundage. Die Begründungen dafür waren schnell formuliert Das Ganze, sagte zum Beispiel Nemetschke, sei wieder einmal ein Einbruch der Politik in die Welt des Sportes, dem man nicht nach- geben dürfe, und im übrigen täten ihm die jungen Leute die sich „schon so lange abgerackert“ hätten, viel zu leid, als daß man nun plötzlich mit den Spielen aufhören dürfe.
‚,Je näher die Stunde heranrückte, in der sich für die Geiseln im olympischen Dorf ihr Schicksal entscheiden sollte, desto gespens- tischer wurde die Szene in der Halle des Hotels. Im Farbfernsehgerät paddelten einige Kanuten für Deutschland; Konstantin Adrianow, russisches IOC-Mitglied, konzentrierte sich darauf, bei seinem deut- schen „Ehrenbegleiter“ einen Schwarzweißfilm zu bestellen, und sein finnischer Kollege Baron Frenckell erörterte mit seinen deutschen Gesprächspartnern dessen These, schuld an dem ganzen Vorfall sei nur die „Sattheit des Bürgertums“, die sich auch bei den letzten bayerischen Kommunalwahlen gezeigt habe. Kurz vor zwölf Uhr hatte man sich in
der Halle eine Meinung mit Hilfe der zehn Finger gebildet: Wenn es bei den zwei Toten vom frühen Morgen bleibe, dann müßten die Spiele weitergehen. Wenn nicht, würde man sich die Sache noch überlegen müssen.
SCHAUPLATZ des blutigen Geschehens im olympischen Dorf ist das Haus Nr. 31 in der Connollystraße, das auf diesem Übersichtsbild durch einen weißen Ring gekennzeichnet ist. Rechts daneben erkennt man die flachen Häuser des Frauendorfes.