Wir sind (die neuen) Helden

MUSIK / Die erstaunlichen Erfolge deutscher Bands in den Hitparaden und ihre Vorgeschichte.

AN RHEIN UND RUHR. "Echt scheiße" hätten ihre englischen Texte geklungen, sagen die Shooting-Stars von Silbermond. Darum haben sie angefangen, Deutsch zu singen. So wie das mittlerweile nicht nur viele junge deutsche Bands lieben, sondern auch die Plattenkäufer. Musik aus Deutschland mit deutschen Texten ist gefragt wie nie. Obwohl der Bundestag nicht die erhoffte Deutsch-Quote fürs Radio beschlossen hat, sondern nur eine Selbstverpflichtung, boomen in den Media-Control-Verkaufscharts deutsche Produkte.

Rückblende: Die anglo-amerikanische Musik der Nachkriegszeit klingt cool und hip, nach Weltoffenheit und Fortschritt. Deutsche Töne, das waren seit den 50ern Schlager voller Pathos und Schmalz. Es war ein "Zug nach nirgendwo". Nur wenige wie Rio Reiser von der Gruppe Ton Steine Scherben spielten dagegen an. Damals setzten junge Musiker oder solche, die es werden wollten, die Ideologie des Punk (drei Akkorde sind genug) in die Tat und Musik mit deutschen Texten um. Die Plattenindustrie nahm Bands wie DAF (Deutsch Amerikanische Freundschaft) unter Vertrag und hatte riesige Erfolge mit Nena, Trio, Geier Sturzflug, Fräulein Menke und Co.

Viva war Plattform für Künstler

Der Boom der (ersten) "Neuen Deutschen Welle" dauerte nur ein paar Jahre, aber Musik mit deutschen Texten war schon selbstverständlicher geworden. Den nächsten Schritt schob Viva an. Der Musiksender startete 1993 von Köln aus seinen Angriff auf die übermächtige Mutter des Musikfernsehens: MTV sendete von London aus anglo-amerikanische Clips mit Englisch sprechenden Moderatoren. "Wer zum Teufel sind Grönemeyer, Westernhagen oder die Toten Hosen", fragten die MTV-Macher - nicht mehr lange. Viva wurde für deutsche Künstler zu einer televisionären Plattform: Bald boomten deutschsprachiger HipHop (Die Fantastischen 4), deutscher Techno und Dance (Scooter) und Crossover (H-Blockx).

Heute bedienen deutsche Künstler praktisch jedes Genre. Xavier Naidoo und seine Söhne Mannheims machen (Schlager)-Soul, Gentleman eroberte mit Reggae und Ragga die Charts. Nie waren mehr Künstler erfolgreich und auch qualitativ hochwertig. Da steigen Tocotronic mit ihrem neuen Album "Pure Vernunft darf niemals siegen" auf Platz 3 der LP-Charts, Juli, Silbermond und Annett Louisan hielten sich monatelang in den Top 10. Die neue Neue Deutsche Welle. "Früher", sagt die 16jährige Janin aus Duisburg, "haben wir immer nur Musik mit englischen Texten gehört. Man hat´s zwar oft nicht verstanden, aber irgendwie fand ich es cooler als Deutsch."

Probleme verpackt in rockige Popsongs

Weil diese Bands fast so jung sind wie Janin und ihre Clique - und weil sie die gleichen Probleme haben, die gleichen Dinge erleben und in rockige Popsongs verpacken: "Mach´s dir selbst" und "Verschwende deine Zeit" heißen beispielsweise zwei Songs von Juli auf ihrem Debüt-Album "Es ist Juli":

"Ja ich weiß / Es war ´ne geile Zeit / Uns war kein Weg zu weit - du fehlst hier / Ja, ich weiß es war ´ne geile Zeit / Hey, es tut mir leid / sie ist vorbei"

Diese jungen Bands leben einen erstaunlichen Pragmatismus. Als nach der Flutwelle in Asien die Sender die Single von Juli nicht mehr spielten, weil sie nunmal leider zufällig "Perfekte Welle" hieß, reagierten Juli mit Verständnis, obwohl der Song inhaltlich überhaupt nichts mit dem Tsunami zu tun hat.

Die Band, mit der sowohl Juli als auch die andere Erfolgstruppe Silbermond verglichen werden, ist Wir sind Helden. Die Band aus Berlin um Sängerin Judith Holofernes hatte zu ihrer ersten Single auf eigene Kosten ein charmantes, günstiges Video produziert und an MTV geschickt: Denen gefiel es wider Erwarten, der Musikkanal spielte es - schon war die Erfolgsgeschichte angeschoben. Das Debütalbum "Die Reklamation" ging weg wie warme Semmeln. Und auch der Nachfolger "Von hier an blind" steht zurzeit auf Platz 3.

(NRZ) 01.06.2005    GEORG HERMENS