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Aus: FOLKER - Das Musikmagazin:

"Chanson Folklore International - Junge Europäer singen"

Vierzig Jahre Waldeck-Festivals

Nichts war mehr so wie vorher

Von Hotte Schneider

Vor vierzig Jahren ging das erste Waldeck-Festival 1964 über die Bühne. Danach war in der deutschen Liedkultur nichts mehr so, wie es vorher war. Folker, Rocker, Liedermacher begannen damals damit, deutsche Texte zu singen, nachdem es in der Nachkriegszeit den Sängern die deutsche Sprache verschlagen hatte. Nach 1964 gab es noch fünf Festivals in Folge auf der Waldeck. Und auch die waren jedes einzelne für sich ein anderer Schub in Richtung Emanzipation der Lied-Kultur. Plötzlich gab es eine Alternative zum Deutschen Schlager-Gesummse. Damals unbekannte Sänger wie Degenhardt, Mey, Süverkrüp, Hüsch, Moßmann und Wader wurden hier entdeckt und populär von einem auf den anderen Tag. Zu den Skurrilitäten der Waldecker Festivals gehört auch, dass ein Iwan Rebroff oder eine Katja Ebstein per Zufall hier rasante Karrieren starteten. Es ist die Zeit, da noch kleine Wunder passieren, ehe man sich versieht. Das gilt besonders für das erste Festival.

Dies alles dokumentiert Hotte Schneider in seinem 500 Seiten starken Buch "Die Waldeck - Lieder, Fahrten, Abenteuer". Dieses spannend geschriebene Geschichtsbuch fängt mit dem Jahr 1911 an. So erfährt man, dass die Festivals in den Sechzigern hier nicht vom Himmel gefallen sind, sondern die Folge einer hoch-interessanten Vorgeschichte sind mit Ruinen-Besetzung und abenteuerlichen Fahrten durch die ganze Welt während der Zwanziger Jahre. Mit den Nazis gab es heftige Konflikte in den Dreißigern. Und in den Fünfzigern inspirierten Dichter und Denker einen neuen Aufbruch.

Hunderte von Liedern wurden auf der Waldeck im Laufe ihrer Geschichte schon komponiert und Tausende gesungen. Und so verwundert es nicht, wenn gerade hier noch unlängst Richie-Havens zusammen mit Wolfgang Niedecken seine legendäre Woodstock-Hymne durch die Wälder hallen ließ: "... freedom, freedom, freeeeeedehom ...!"

Der Beitrag über das erste Waldeck-Festival 1964 ist der für den Folker! von Hotte Schneider bearbeitete Vorabdruck des entsprechenden Kapitels in seinem zum Waldeck-Jubiläum erscheinenden Buch.

"Etonnez nous!"

Pfingst-Samstag 1964 ist es so weit. Rund vierhundert Leute sind gekommen und haben praktischerweise gleich die Sonne mitgebracht. Diethart Kerbs stimmt ein mit einer Eröffnungsrede (Auszug): "Wir fanden, dass eine bestimmte Art von Musik, für die wir eine ganz besondere Vorliebe haben, in Deutschland längst noch nicht genug beachtet und gepflegt wird. Wir meinen das Chanson, das Lied, den Bänkel-Song, die unverkitschte Volksmusik. Wir haben uns gefragt, warum wir in unseren Breiten keinen Georges Brassens oder Yves Montand, keinen Pete Seeger und keine Joan Baez haben. Wir möchten gerne herausfinden, welche Möglichkeiten das Chanson bei uns hat oder haben könnte." *  Der Vortrag endet mit der Aufforderung an die Künstler: "Etonnez nous!", was so viel heißt wie: Erstaunen Sie uns! Oder: Nun überrascht uns mal!

Und das taten sie dann. Bereits beim sich anschließenden ersten Konzert entfalten die Sänger und Musiker eine so in Deutschland nie gehörte Bandbreite vom ostafrikanischen Tanzlied bis zum modernen, literarischen Chanson. Dazwischen die Fülle der amerikanischen und europäischen Folklore. Carol Culbertson aus Pittsburg, Karen Litell aus Chicago und Russel Sansom singen amerikanische Folk-Songs. Shields Flynn ein Afro-Amerikaner aus North Carolina spielt Flamenco. Und Michaela Weiss aus Karlsruhe gefällt mit israelischen Volksliedern. Das Staunen ist groß und das meist jugendliche Auditorium reagiert begeistert.

Der Waldecker Hai Frankl hat seine Frau Topsy aus Stockholm mitgebracht. Sie singen Lieder aus verschiedenen Ländern. Durch diesen Auftritt werden sie fortan als renommiertes Duo in Sachen europäischer Folklore gehandelt.

Von der Einweg-Kommunikation zwischen Künstlern und Zuhörern, wie sie sich später bei den großen Festivals der Siebziger und Achtziger mit Großbühnen und Mega-Beschallung entwickeln wird, ist hier noch nichts zu spüren. Alle wollen über das Erlebte miteinander reden. In den lebhaften und anregenden Diskussionen geht es vor allem um die Begriffe "Chanson" und "Folklore". Leicht vorstellbar, dass es zu keinen abschließenden Erkenntnissen kommt. Da kommt ein klassisches Konzert zur Gedankenordnung ganz recht. Jawohl richtig gehört. Beim ersten Festival gehört solcherlei Erbauliches noch zum

Waldecker Alltags-Repertoire. Karl-Heinz Böttner gibt ein Händel-Konzert und Studenten der Detmolder Musikhochschule spielen aus alten Lautentabulaturen. Und selbst Sepp Gregor fehlt nicht und macht nach bewährtem Rezept aus der gesamten Zuhörerschar einen großen Sängerchor.

Plattenvertrag für Peter Rohland

Und einer der ihren selbst schafft es dann doch, neben allen anderen, auch die Waldecker einmal mehr zu erstaunen. Peter Rohland ist einfach unübertroffen in seiner Schaffenskraft. Immer wieder neue Felder bearbeitet er und so bringt er hier bei diesem Heimspiel mit seiner wohltönenden, tragenden Stimme zum ersten Mal sein jiddisches Programm: "bitter wehmütige Partisanenlieder aus der Zeit des Warschauer Ghettoaufstandes, die mit Tanzweisen abwechseln, in denen bei aller ausgelassenen Fröhlichkeit eine verborgene Melancholie und die tiefe Gläubigkeit des Chassidismus mitschwang". **  Gesine Köhler legt die zweite Stimme drüber und Hanno Botsch lässt die Geige dazu weinen. Der anwesende Polydor-Mann macht mit den dreien am nächsten Tag einen Plattenvertrag.

Dem Nerother Nest längst entschlüpft, treten die "Neusser" auf die Bühne. Bömmes, Goly, Bläck, Helmut und Panther bringen Gesänge aus dem afrikanischen Busch und singen ein südamerikanisches "freudig erregtes" Weihnachtslied, wobei sie gekonnt bei Jauchzen und Trillern die Tempi wechseln. Das Heimpublikum ist begeistert. Mit Oss Kröher tritt ein weiteres Waldecker Urgewächs an. Alleine, ohne seinen Bruder, singt er Vagantenlieder und steirische Folklore: "Es war einmal ein Holzknecht so stolz". Oss verkörpert dabei, wie kein anderer, das Kernige im Waldecker Lebensgefühl.

Dieser Lebensstil lässt so manchen in diesen Tagen auf den Geschmack kommen. Und nicht wenige sollen zum ersten Mal entdeckt haben, dass man schon glücklich werden kann, wenn man einfach nur unter einem Baum sitzt und das Leben Leben sein lässt. Auch die, die mit Vorbehalten die traditionsbehaftete Waldeck betreten hatten, wurden schnell eines Besseren belehrt. Beispielsweise Martin Degenhardt, der Bruder des Saarbrücker Sängers: "Man gab sich nicht nur leger und zivil, man war es auch, und zwar mehr als man selbst sich zu Hause leisten würde: keine Hornsignale, kein gemeinsames Aufstehen mit anschließendem Waldlauf, kein Fahnenhissen. Man trank Wein, Bier und Schnaps, lag auf großen Wiesen, unterhielt sich, hörte irgendjemanden singen und Gitarre spielen, und das überall. Wer zum ersten Mal da war, hat wahrscheinlich noch nie so viele Gitarren zusammen gesehen." *** 

Demaskierung deutscher Spießer


Das Programm wird immer wieder geändert. Unerwartete Sänger treten auf den Plan. Andere, die vorgesehen waren, kommen gar nicht. So warten die Veranstalter vergeblich auf die "Verhungerten" aus Berlin. Ein "Verhungerter" steht dann schließlich doch noch mit seinem Gitarrenkoffer neben der Bühne. Er heißt Reinhard Mey. Ein sympathischer Jüngling, gerade dem französischen Gymnasium in Berlin entwachsen. Mit einschmeichelnder Stimme singt er ersatzweise ein französisches Chanson über Zärtlichkeit und ein Lied mit Grasshoff-
H. Botsch, P. Rohland und G. Köhler Text, den sein Freund Schobert Schulz vertont hat: "Auf der Plantage die Banano im kleinen Urwald Brasiliano". Er gefällt. Fällt aber nicht weiter auf. Noch nicht. Mey: "Und 1964 hatte ich ungefähr fünf eigene Lieder, mehr hatte ich nicht, und drei davon habe ich an dem Abend gesungen, und das reichte, um mich erstmal den Leuten vorzustellen. Und daraufhin habe ich dann überhaupt erst angefangen, richtig los zu schreiben."
Die "Ballade vom Briefträger William L. Moore", der im Jahre 1962 in den US-amerikanischen Südstaaten ganz alleine gegen die Rassentrennung demonstriert hatte und dabei ermordet worden war, hat der Ostberliner Lyriker Wolf Biermann geschrieben. Und weil Biermann seit drei Jahren eine Mauer vor der Nase hat, kann er nicht zur
Waldeck kommen. Stellvertretend singt die deutsch-liberianische Sängerin Fasia Jansen deshalb dieses Lied. Sie hat Dynamit in der Kehle. Bei ihren Texten eröffnet sich vielen der Besucher eine Welt, nach der sich viele lange gesehnt haben. Endlich singt in Deutschland mal jemand davon, was viele so lange schon bewegt, was aber immer wieder unter dem Nachkriegsdeckel zurückgehalten wurde: Wiederbewaffnung, Atomversuche und ähnliche Ärgernisse. Fasia Jansen schreit es heraus.
Und dann Dieter Süverkrüp. Keiner demaskiert die deutschen Spießer so wie er. Seine schnell- und scharfzüngigen Satire-Beiträge verbreiten im Publikum äußerst gute Laune. Abreagieren durch Ablachen. Er ist der Frechste. Links und frech. Herzerfrischend neu.
Dieter Süverkrüp 1964



 *  Die komplette Eröffnungsrede ist abgedruckt in: Bericht über das erste internationale Chanson- und Folklore-Festival zu Pfingsten 1964 auf
Burg Waldeck im Hunsrück. Hrsg. als Sonderheft des "WBB" vom Studentischen AK i. d. ABW. Archiv d. ABW.

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Kirch, Hans-Christian in: MUSICA 5/64 und Deutsche Jugend 6/64
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Martin Degenhardt in: Chanson Folklore International 1964-65. Eine Dokumentation der ABW 1965.Archiv d. ABW
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aus Folk Michel, 3/89, Mai-Juni 1989 "Die Festivals in Zitaten""Das Fest fand im Freien statt - Die Geschichte der Festivals auf
Burg Waldeck", S. 12