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27. April:
 

     Waltraut hatte es für notwendig befunden, für den Osterhasen ein Gedicht aufzusagen. Zum Glück fiel mir schnell ein Kinderverschen ein: „Lieber, kleiner Osterhas, bring uns braven Kindern was...“
     Dabei geriet sie mit Detlev in Streit, ob es wirklich heiße „uns braven Kindern“, denn sie fühlte wohl selber, dass es mit dem Bravsein in der letzten Zeit nicht so weit her gewesen war und dass man die Freigebigkeit des Osterhasen nicht unnötig einschränken sollte – Osterhasen wie Weihnachtsmänner oder Christkinder zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie beim Schenken nicht so genau hinschauen, ob der Beschenkte sein Geschenk auch verdient hat. (Darum hat der Gesetzgeber ja auch mit Recht formuliert, was jeder Jurastudent im ersten Semester lernt: „Weihnachtsmann im Sinne des Gesetzes ist auch der Osterhase.“) Schon der Nikolaus hatte Waltraut zu ihrer Verwunderung ja etwas gebracht, obwohl sie vorher bockig gewesen war.
    
     Nun, die Sache mit dem richtigen Wortlaut des Liedes ist nicht entschieden worden, aber in der Stunde der Entscheidung zeigte sich, dass der Osterhase offenbar über ein sehr ausgedehntes Gemüt verfügt. Waltraut hatte zur Sicherheit tags zuvor noch ein Nestchen aus Gräsern angefertigt, um es dem Osterhasen so leicht wie möglich zu machen.

     „Weißt du, ich glaube aber nicht, dass der Osterhase die Eier da hineinlegt. Das wäre ja zu leicht“, meinte sie bedenklich.

     Noch ehe Helga die Geschenke im Garten versteckt hatte, lief Waltraut schon suchend herum und ich konnte sie nur mit Mühe überreden, hinaufzukommen und in Omas Zimmer abzuwarten, bis der Osterhase da ge­wesen sei.

     Schließlich kam Helga dann aber herauf und sagte den Kindern, sie habe eben den Osterhasen fortlaufen gesehen. Da ging es natürlich jetzt ans Suchen – nur Gundel verstand die Sache noch nicht und wollte gar nicht einsehen, dass sie da etwas zu tun habe. Als man ihr aber zwei bunte Eier in die Hand drückte, war sie hoch zufrieden damit und wollte sie nicht mehr loslassen. Und als dann auch noch ein Schubkarren für sie zum Vorschein kam, zog sie glücklich damit ab. Leider gefiel ihr nachher Detlevs Leiterwägelchen erheblich besser und da gab es dann gleich einen Konflikt, denn Detlev wollte sein neues Spielzeug natürlich auch nicht hergeben. Waltraut brachte ihre Puppe vorsichtshalber in Sicherheit, ehe der Streit ausartete.

     Während dieser Zeit ging ein junger französischer Soldat im Garten auf und ab. Er war als Wache mit den deutschen Kriegsgefangenen mitgekommen und wartete nun das Ende des Gottesdienstes ab. Er nahm Gundula den neuen Ball aus dem Schubkarren und versteckte ihn in der Hand. Gundel war so entsetzt über diese fremdartige bewaffnete Erscheinung, dass sie nicht einmal zu schreien wagte. Wir riefen ihr alle zu, sie solle schön „bitte, bitte“ sagen, was sie dann auch tat. Als das aber nichts nützte, ging Waltraut beherzt auf den Soldaten zu, um ihm den Ball wegzunehmen. Aber im letzten Augenblick verließ auch sie der Mut und sie wagte es nicht, den Ball aus der fremden Hand zu lösen. Als Gundel nun noch ein­mal „bitte, bitte!“ gesagt hatte, bekam sie endlich den Ball.

     „Jetzt fahr aber schnell davon!“, meinte Waltraut schlau. Später trat der Soldat noch einmal auf Gundel zu.
     „Du jetzt mit mir kommen!“, sagte er in schlechtem Deutsch. Unser sonst so keckes Gundelchen zog sich langsam zurück.
     „Nein“, und ihre großen Augen waren ganz Abwehr. „Mutti gehen“. Bei uns fühlte sie sich dann sicherer. Aber es war ihr erst wohl, als der Soldat ganz verschwand.

22. April:

     Waltraut hat sich gestern beim Osterausflug erkältet und hustet heute unaufhörlich. Darum soll sie ins Bett und einen Wickel bekommen. Da sie gerade zu ihrer Freundin Marina wollte, ist sie unglücklich und heult, heult ununter­brochen. Da kommt Marina und ist sehr betroffen über diese heulende Er­scheinung.

     „Ich habe draußen geglaubt, es ist Fliegeralarm“, sagt sie. Waltrauts Geheul klingt ja tatsächlich wie eine Sirene. Marina zieht sich zurück, was Waltrauts Schmerz nur verstärkt. Sie wird so bockbeinig, dass Helga und ich sie mit Gewalt ins Bett schleppen müssen. Drau­ßen geht derweil Detlev auf und ab. Ihm ist sehr beklommen zumute. In sei­nem Gesicht steht inniges Mitgefühl mit seiner ungebärdigen Schwes­ter. Es braucht ziemlich lange, bis sich Waltraut in den Schlaf geweint hat.

     „Was willst du einmal werden“ fragt Mutter Waltraut beim Essen.
     „Eine Mutti“, antwortet sie prompt.
     - Ja, aber wenn du am Ende keinen Mann bekommst?
     - O doch‚ den Herbert bekomme ich auf jeden Fall und den Heinzel auch, Frau Sauer hat schon gesagt, ich kann den Heinzel haben!
     - Aber darauf täte ich mich doch nicht allzu fest verlassen! Wer weiß, bis Heinzel groß ist, gefällt ihm eine andere Frau besser und dich lässt er stehen, z. B. die Gundel oder die Marina.“
     - Die Marina kann der Heinzel ja nicht nehmen! Sie ist ja gar keine Deutsche!“, sagt Waltraut da energisch, fast ein bisschen verächtlich, ob­wohl sie ihre persische Freundin sonst sehr gern hat. Außerdem spricht Marina ein vorbildliches Deutsch. Woher Waltraut das hat, ist uns unerklärlich.