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Ich über mich | Olympia 1972 |
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Olga war ein – sagen wir mal – eigenwilliger
Mensch mit einigen überraschenden Eigenschaften. So bestand sie
darauf, dass
wir morgens zur Begrüßung stehend im Chor „Grüß
Gott, Frau Lehrer!"
anstimmten. Mit der heutzutage im Zuge der Emanzipationswellen
geforderten
weiblichen Endung hatte sie nichts am Hut. (Übrigens habe ich in
diesem
Zusammenhang eine bemerkenswerte Erfahrung gemacht: Ich selbst musste
ja an
allen möglichen Orten von Lehrerinnen
und Lehrern, von Schülerinnen und Schülern, von
Dezernentinnen und Dezernenten
sprechen, von Elterinnen und Eltern – nein, das stimmt nicht, wohl aber
stimmt,
dass es Ausbildungslehrergutachten und Ausbildungslehrerinnengutachten
und
Schülerzeitungsredakteurinnen und Schülerzeitungsredakteure
und sogar Bundeskanzlerinnen
und Bundeskanzler gibt, und als ein ausgewiesener promovierter
Dezernent in der
Gewerkschaftszeitung etwas über die „Mitgliederinnen und
Mitglieder“ schrieb,
ist mir, ehe mich der Zorn packte, zum Trost gerade noch Karl Valentins
Begrüßung
eingefallen: „Liebe Gästinnen und Gäste…“ Der hatte
wenigstens noch Humor!
Ja,
und dann hörte ich die siegreichen Biathletinnen über ihre
Konkurrenten – nicht
Konkurrentinnen! – sprechen, und das klang etwa so: „Ja, die Russen
haben eine
gute Staffel, sie sind ziemlich sichere Schützen und auch gute
Läufer…“ – und
dabei war doch nur von Frauen die Rede!) Olga also
kümmerte sich
absolut
nicht um die Frage korrekter Berufsbezeichnungen – sie hatte andere
Kampffelder: Wenn der Besuch des Schulinspektors drohte, pflegte sie
flugs
einen Ausflug anzumelden, um so der Inspektion zu entgehen. Ihre
bemerkens-
und
rühmenswerteste Eigenschaft aber war, dass sie mich liebte – in
der gebotenen
katholischen Keuschheit, versteht sich, aber doch unübersehbar.
Diese Liebe
verbot es ihr, mich irgendwelchen Gefahren auszusetzen, wie sie zum
Beispiel
vom schulischen Völkerballspiel in reichem Maße ausgingen.
Bei diesem rohen
Sport galt es, die Spieler der gegnerischen Mannschaft durch heftiges
Bewerfen
mit dem Ball auszuschalten, und der Eliminierung entging man nur, wenn
es einem gelang, rechtzeitig
auszuweichen
oder den Ball zu fangen, was für mich nicht in Frage kam, weil ich
viel zu viel Angst vor dem Spielgerät hatte. Eine solche Bedrohung
meiner körperlichen
Unversehrtheit also ersparte sie mir, indem sie mich einlud, neben ihr
leicht
erhöht auf den Stufen der Turnhallentür zu sitzen,
während die Mitschüler ihre
rohen Kräfte maßen. Wenn wir dann so nebeneinander
saßen und dem Spiel zusahen,
raunte sie mir halblaut zu: „Mir sein narrisch!" (Wir sind
verrückt, blöd,
wahnsinnig, auf jeden Fall psychisch irgendwie aus den Fugen) und
setzte dabei
eine Art Grinsen auf, das den Wahrheitsgehalt der eben gemachten
Feststellung
zu bestätigen schien.
Nun muss man ihr aber zugute halten, dass
sie noch sehr jung war, knapp über zwanzig. Das ging damals in
Österreich – man
besuchte nach der Matura, der Reifeprüfung, zwei Jahre die
Lehrerbildungsanstalt und schon war man Volksschullehrer („Frau
Lehrer").
Weil Olga also noch so jung war und Anfängerin und sechsundvierzig
muntere
Buben, die auch nicht alle aus den besten Häusern kamen, im Zaum
halten musste,
neigte sie zu eher radikalen pädagogischen Methoden und
körperlichen
Ermahnungen. Kurz: sie schlug, und zwar nicht einfach so mit der Hand,
sondern
mit dem Stock. Das war kein Rohrstock, sondern ein echter Tiroler
Knüppel,
mindestens anderthalb Meter lang und von sehr solider Beschaffenheit.
Damit gab
es die so genannten „Patzen" – Schläge auf die Hand. (Wie
blöd manche dieser
sechsundvierzig Buben waren und wie verdient deshalb ihre
Züchtigung, kann man
daran sehen, dass sie, wenn es ans Bestraft werden ging, die Oberseite
der Hand
hinhielten, die Seite also, auf der es besonders weh tut, weil der
Knüppel da
ja auf eine Reihe fast ungeschützter Knochen trifft.)
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