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Ich über mich | Olympia 1972 |
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Texte |
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Gundel ist
nach ihrem Asthmaanfall wieder ganz in Form. Mit ihren gedrechselten
Zöpfchen,
im Dirndlkleid, mit den knallroten Wangen und den lebhaften Augen, die
vor
lauter Unternehmungslust leuchten, schaut sie aus wie ein allerliebstes
Bauerntrutschele. Sie ist wirklich sehr unternehmend und schreitet von
einer
Schandtat zur anderen. So war der Opa dabei, den traditionellen " Schwarzen“
zum Sonntag zu brauen. Er füllte den Kaffee aus der Dose in die Mühle
und als
er gemahlen war, tat er ihn in den bereitstehenden Filter. Der Filter
stand
schon gebrauchsfertig da und der Opa brauchte nur noch das
Filtrierpapier über
das Sieb zu legen und dann fing er an, den Kaffee aufzubrühen. Als er
die
Kaffeedose wegräumen wollte, fehlte der Deckel. Wo kann der nur
hingekommen
sein? Der Opa hatte gerade vorher damit hantiert - es kann ihn ja
niemand weggetragen
haben. Gundula?? Aber sie macht ihr unschuldigstes Gesicht
und weiß nichts
von einem Deckel. Rätselhaft -
und
der Kaffee will auch nicht durchlaufen
durch den Filter. Sollte dort der Deckel - - - ? Nun muss der kostbare
Kaffee
umgeladen und der Filter untersucht werden. Richtig, unter dem Sieb, kunstvoll
hineinpraktiziert, liegt der Deckel, das Sieb sorgfältig darüber
gelegt, Aber
Gundel interessiert das Unheil gar nicht, das sie da angerichtet hat.
Sie ist
gerade dabei, im Badezimmer neues Unheil zu stiften. Gerade vorhin fand
Mutter
Bauer in der Teekanne einen Schlüssel. Das vollbringt sie alles im
Handumdrehen 18.
März: Helga war mit
den Kindern spazieren. Unterwegs setzte sie sich einmal auf eine Bank,
um
Gundel die Zöpfe zu richten. Es saß ein Mann auf der Bank und Detlev
biederte
sich mit ihm an. Da fragte ihn der Unbekannte, wie er denn heiße. „Ich heiße Deti — Detlev
Mahnert“, dann zeigte er auf
Waltraut, die am Hang Blumen pflückte, „und die heißt Waltraut und die
Gundula
und die da“‚
damit
zeigte er auf Helga, „ist die Frau Mahnert.“ Es
fehlte nur noch,
dass er die näheren Daten seines Vaters angab. Er erzählte dann noch,
wie alt
sie alle seien. Waltraut hatte
neulich einen schlechten Traum, sie wurde weinend wach und verlangte
zur Mutti
ins Bett und beruhigte sich erst,
als sie tatsächlich von Helga
ins Bett genommen wurde. Am nächsten Tag wollte sie den Traum nicht
erzählen,
nach einigem Zureden erzählte sie ihn Mutter doch: ein schrecklich
großer Käfer
mit langen Krallen sei da gewesen, und obwohl eine Frau auf ihm
herumtrat, habe
er doch immer wieder seine Krallen nach ihr ausgestreckt. Da hat sich
Waltraut
sehr gefürchtet. „Ich habe es nicht gewusst, dass er es ist, wie ich ihn von weitem gesehen habe. Aber die Mutti hat es gesagt. Ich habe ihn nicht gekannt. Er ist wie ein Soldat gekommen und da habe ich auch gewusst, dass es der Opa Lütte ist - ja, und dann haben wir ausziehen müssen!“ “Ja, warum denn?“ “ Ich weiß nicht. Wahrscheinlich war kein Platz mehr für uns.“ So schleicht sich das Gefühl der Heimatlosigkeit bis in die Kinderträume. Gundel kann schon recht nett allein essen. Beim Frühstück löffelt sie gewaltig die eingebrockte Semmel aus dem Kaffee und lässt sich dabei durch nichts beirren. Wenn sie mit der ersten Rate fertig ist, ruft sie mit singender Stimme: „Nooooch bissi!“ Die Kinder sind gestern fotografiert worden und zwar kam die Fotografin zu uns. Gundel war von geradezu drolligem Ernst, nur Waltraut konnte ihr einmal ein kleines Lächeln abgewinnen. Waltraut war etwas aufgeregt. Sie machte sich wichtig und redete und lachte viel. Sie war so zutraulich, dass man ihr Benehmen schon dreist nennen konnte. Am gelungensten war Detlev. In dem Augenblick, wo er sich beobachtet fühlte, nahm er eine stocksteife Haltung ein. Er wagte es kaum, mit den Augen zu blinzeln, in der denkbar unnatürlichsten Haltung legte er die Hand aufs Knie und war nur durch allerlei Künste zu einem ganz kleinen Lächeln zu bewegen. — 23. März Gestern
hat Waltraut wohl den bisher größten Schmerz erfahren: als nach der
Turnstunde
Helga noch nicht da war, um sie abzuholen, glaubte sie, dass die Mutti
nicht
mehr kommen würde und machte sich allein auf den Weg. Aber sie kam
nicht weit.
An der nächsten Ecke blieb sie ratlos stehen. Helga, die sie inzwischen
überall
gesucht hatte, ging eilends nach Hause in der Hoffnung, eine andere
Mutter habe
Waltraut nach Hause gebracht. Waltraut muss nahezu eine halbe Stunde da
gestanden
haben. Eine Frau, die sie weinen sah und sich nach allem
Näheren
erkundigte, brachte Waltraut zur Gymnastiklehrerin zurück und gab uns
von Waltrauts
Verbleib telefonisch Nachricht. Ich machte mich sofort auf den Weg, um
Waltraut
zu holen. Ich fand sie bitterlich weinend im Turnsaal sitzen, sie
zeigte nicht
die geringste Freude, als sie mich sah. Als
ich ihr die Tränen abwischte, hörte sie wenigstens
auf zu weinen, dann ging sie, noch ganz benommen von ihrem Schmerz,
still an
meiner Hand und gab mir auf meine Fragen keine Antwort. Erst bei einem
Schaufenster
mit Kinderspielsachen taute sie auf. Als wir nach Hause kamen, nahm
Helga ihr
großes und doch noch so kleines Mädel auf den Arm. Waltraut schmiegte
ihren
Kopf an sie und sagte immer nur: „Du, du, du...“ Später
erzählte sie dann
ihre Erlebnisse. Bald war sie wieder vergnügt und lustig, und später
sang sie
sich selber in Schlaf. Jetzt ist es wieder so warm,
dass die
Kinder den ganzen Tag im Garten spielen können. Auf Gundel muss man
furchtbar
aufpassen, sonst ist sie im Handumdrehen davon. Waltraut, die wilde
Hummel ist
in ihrem Element. Sie ist den ganzen Tag unsichtbar und erscheint dann
in
völlig aufgelöstem Zustand: Die Strümpfe sind heruntergerutscht und
haben Löcher,
die Haarmasche ist verloren und die Haare hängen ihr wild ins
Gesicht,
das Schürzenband ist offen, Gesicht und Hände sind schmutzig, aber
Waltraut ist
selig. Die Kinder schauen gleich
viel besser aus.
Die Wangen glühen und die Augen leuchten vor Unternehmungslust. 26.
März Detlev kam heute ganz
aufgeregt aus dem
Garten: “Tante Inge, es blühen schon viele Gänseblümchen -
und
auch gelbe Blumen!“ Das Neueste bei Gundel ist, dass sie in den allerhöchsten Tönen quietscht, wenn sie etwas haben will. Wenn man sie dann streng anschaut, nimmt sie sich gleich zusammen und sagt manierlich:“ „Bitte, Tante Inge, Wassi will i.“ |