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11. Dezember:

Zu unserem großen Kummer hatten die Kinder mit den marokkanischen Wachtposten von gegenüber angebandelt. Wie sollte man ihnen beibringen, dass sie das nicht sollen? Die kinderlieben Marokkaner konnte man ihnen unmöglich als böse hinstellen. Außerdem wäre das zu gefährlich. Sie jedes Mal unter Protestgebrüll von dort wegholen, konnte man auch nicht.

Eines Tages ergab sich die Lösung von selbst.
„Was ist das?“ fragte Waltraut, auf unsere Fahnenstange am Fenster deutend. - Eine Fahnenstange.
- Warum ist da keine Fahne drauf ?
- Weil wir unsere Fahne nicht aufhängen dürfen.
- Was ist das für eine Fahne? Warum nicht so eine Fahne, wie sie die Franzosen haben?
- Die Fahne, die wir lieb haben, die dürfen wir nicht aufhängen. Und die Fahne, die die Franzosen haben, die mögen wir nicht. Die Franzosen mögen ihre Fahne und wir unsere.
- Warum dürfen wir unsere Fahne nicht aufhängen?
- Weil die Franzosen sie nicht mögen. Wenn sie uns mit der Fahne sehen, werden wir eingesperrt. Und Vati, Onkel Klaus und Onkel Heinz (Mutters ältester Bruder) sind schon eingesperrt, weil sie die Fahne mit dem Hakenkreuz lieb haben.

- Zeig mir die Fahne!“
Immer wieder kommt die Bitte: ,,Zeig mir die Fahne!“
Das Köpfchen war ganz schwer von nachdenklichem Ernst. Und nun konnte ich ihr erklären, dass sie deshalb nicht mit den Marokkanern spielen dürfen, weil sie unter der Fahne der Franzosen stehen, und die Franzosen sind unsere Feinde, und die Marokkaner müssen den Franzosen gehorchen.
„Und wenn sie ihnen nicht folgen, dann geht es ihnen schlecht, nicht?“ fragte sie ernst.

Am Abend saß Waltraut dann vor ihrer Schiefertafel und malte unermüdlich Hakenkreuze.

Bei den Marokkanern habe ich seither die Kinder nicht mehr gesehen...


  

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Und malte unermüdlich Hakenkreuze...

Konnte man am Ende des Schicksalsjahres 1945 noch nicht ahnen, dass es nicht so rühmenswert war, die Fahne mit dem Hakenkreuz geliebt zu haben? Hätte man zumindest nicht darauf verzichten müssen, den Kindern dieses unselige Symbol als liebenswert darzustellen?

Andererseits – das Bild des Vaters irgendwo in der Ferne, ein eingesperrtes Phantom, aber auch ein Leuchtfeuer ausgesprochener und unausgesprochener Hoffnungen – Wenn der Vati zurück kommt, dann wird alles besser – durfte man dieses Bild in Frage stellen? Musste er, der sich nicht äußern, der nichts erklären konnte, nicht darauf vertrauen können, dass sein Bild rein gehalten wurde?

Sie malen heute keine Hakenkreuze, und bei den Marokkanern sind sie doch gewesen, viele Jahre später, haben die Wüste erlebt und die Souks, haben mit leichtem Gruseln den singenden Blinden auf der Jemaal-el-Fna zugehört, dem Platz der Geköpften, dem Hauptplatz von Marrakech, haben ungläubig die Krüppel angestarrt, die ihre verwüsteten Leiber, ihre Furunkel und grausig verdrehten Gliedmaßen zur Schau stellten, haben ohne etwas zu verstehen den Märchenerzählern gelauscht, den unheimlichen alten Männern, wie Djinne aus dem Rauch geboren, haben den Duft der liebevoll aufgebauten Pyramiden von Kurkuma, Pfeffer und Curry eingesogen, haben den Schreibern mit ihren Fußbänken und den Schatten spendenden Schirmen zugesehen, den Schlangenbeschwörern, die ihre müden, giftzahnlosen Kobras in Position brachten, den Kräuterdoktoren, die gegen jedes Übel der Welt ein Mittel anpreisen, gegen Liebeskummer, Schweißfüße und Potenzstörungen, haben die roten Bommelmützen der Wasserverkäufer bewundert, die schon lange kein Wasser mehr verkaufen, sondern sich selbst fürs Fotoalbum, haben in prächtigen Sälen gegessen und getrunken, haben mit Mohamed und Malika Freundschaft geschlossen und nie wieder daran gedacht, dass sie nicht mit den Marokkanern anbandeln sollten...