Er fahre viel und
schnell, bekennt einer
in einem Internetforum, überhole auf der Autobahn auch mit Tempi
jenseits von
200, in Baustellen
halte er sich aber an die Tempolimits und werde von
all
denjenigen wieder überholt, die er vorher als Raser hinter sich
gelassen habe: Vorbildlich
also – so wie der Großzügige, der einräumt, dass schon „ein wenig mehr
als
200 Sachen auf die Straße“ kämen, wenn er mal voll
durchtrete. Das mache er
aber nur nachts, gegen 2 oder 3 Uhr, da
seien dann auch keine
"Oberlehrer" mehr auf dem Highway. „Falls dann doch: runter vom Gas,
gemütlich vorbeiziehen, ihm dann die vier Auspuffrohre zeigen.
Meistens
erschrecken sie alleine vom Sound der 5.7-Liter Maschine. Filmen muss
man diese
armen Krauterer nicht auch noch... die sind eh schon genug gestraft.“
Ein anderer gibt zu
verstehen, dass
er lieber mit professionellen
Testfahrern jenseits der 200er-Grenze auf der Autobahn unterwegs sei
als
mit „Oberlehrern,
die kraft ihres Amtes die linke Spur gepachtet haben und peinlich genau
fünf
Kilometer pro Stunde unter der zulässigen
Geschwindigkeit den
kompletten
Verkehr aufhalten.“
Geschwindigkeitsrausch,
Macht und Ohnmacht, die schnelle Maschine zur Kompensation der
Ich-Schwäche - das sind einige der Parameter des Auto-Wahns.
Während
die Welt mit masochistischem Schauder fast tatenlos zusieht, wie ihr
Klima sich mehr und mehr erwärmt, wie immer mehr Wirbelstürme
immer
größere Landstriche verwüsten, wie New Orleans
versinkt, während ein
Taifun sich anschickt, die Ostküste Chinas zu verheeren, werden in
Frankfurt Kraftfahrzeuge vorgestellt, die mühelos 300 km/h
erreichen.
"Ab 380 Stundenkilometern wird er etwas zäh", schreibt ein
Autotester
bewundernd über den Bugatti Veyron. Zum Glück gibt es kaum
eine Straße
auf der Welt, wo man diese Geschwindigkeit erreichen kann - für
das
Selbstwertgefühl aber reicht es ein Auto zu besitzen, das so
schnell
fahren könnte.
Nicht der Mörder, der
Ermordete ist
schuld… so der Tenor der vereinigten Tempomanen, deren Potenz in den
rechten
Fuß gerutscht ist.
„Die Frau hatte
selber Schuld!“, beteuert
einer, „und wenn sie überlebt hätte, hätte man
ihr den Führerschein
abnehmen sollen. Mit ihrem
popeligen Kleinwagen hat sie nix auf der
linken Spur
verloren. Wenn die auf der Überholspur rumtuckelt und dann
erschrickt, wenn ein
schnell
fahrendes Fahrzeug von hinten angeschossen kommt, dann hat sie
selber
Schuld. Shit happens!“
Und dann melden sich die
Rechtskundigen,
die gleichen, die jeden Sexualtäter kurzerhand entmannen und
anschließend nach
langer
Folterung hinrichten möchten – möglichst
eigenhändig, hier aber
plötzlich so Zauberworte wie „im Zweifel für den Angeklagten“
entdecken:
Das
Urteil sei eine Schande für unser Rechtssystem und nichts anderes
als populär
gebeugt. Deutschland sei eben eine
Scheiß-
Neidgesellschaft,
in der Leistung nicht geschätzt und bewundert werde, sondern ein
Objekt des Neides
darstelle.
„In dubio pro reo“,
führt ein gewisser Dr. Best
latinisierend an und klärt auf: „Einer
musste ja leiden. Und der passte eben genau ins
Feindbild. Er ist ein
schnelles
Auto gefahren, war nicht gerade der Ärmste und dann
noch eine Frau als Richter und eine Frau
als Opfer!!
Und ein Mann als Täter!! Als nächster Schritt
bekommen dann die
Schnellfahrer noch einen Stern auf die Jacke genäht!!! Ist doch
wie in
den
guten alten Zeiten.“
Diese rasierklingenscharfe
Argumentation
wird übertroffen von dem folgenden Wutausbruch eines aufrechten
freien
deutschen Bürgers
als Reaktion auf den Vorschlag eines Besonnenen,
auf
deutschen Autobahnen wie auf allen anderen in der Welt eine
Höchstgeschwindigkeit
einzuführen.
„garantiert
bringt dein kleinwagen nicht mehr aufn tacho -
sach, bist du weltfremd oder schon über 70
??? wahrscheinlich fährst nur
einmal im jahr aufn sonntag morgen
autobahn. so
einen stuß mit max nur 140km/h kann ich nicht mehr hören,
das ist bullshit. die
jenigen,
die sich nicht trauen aufer autobahn zu fahren, weil ja jeder,
der
schneller fährt als man selbst, gleich jeden entsprechend als
raser
abstempelt,
sollte seinen führerschein abgeben. jeden als raser abzustempeln,
nur weil er
mal schnell fährt, ist unterhalb der gürtellinie.
wenn du
meinst, nur 140
fahren zu müssen, dann fahr mit der bahn, da haste keinen anderen
fahrer im
rückspiegel.“
Den
ultimativen Durchblick allerdings hat Diskussionsteilnehmer Leroy_X,
der nebenbei
auch zeigt, wohin im Jahre drei nach PISA die
sprachliche Reise geht:
„Das
is echt nimmer normal! Ich behaupte immer noch, das das Urteil daran
lag, weils
ne Frau war! Nach dem Motto: der fährt nen
fetten schlitten, alle
die nen
fetten schlitten fahren gasen wie arschlöcher, also er auch. Nur:
der is doch
Testfahrer (gewesen)! Der weis
doch wie man auto fährt, und das
ihm dann ne
Mutter in die quere kommt, dies eben net kann, und dann suizid macht,
dafür
kann er
doch nix!
Eigentlich
gehört das Gericht angeklagt! denn das Urteil war net
rechtmäsig, und durch den
Prozess wurde der Angeklagte zur Sau
gemacht, der kann sich ja nimmer
auf der
Strasse sehen lassen! Freunde hat er bestimmt auch keine mehr, und vom
Geld
erst garnet
zu reden, keinen Job mehr, keinen Führerschein! Nur
wegen einem
falschen Urteil wurde dem angeklagten sein Leben quasi genommen,
demnächst
steht in der Zeitung das er Selbstmord beganngen hat! und kurz darauf
finden se
raus das er net schuld war, aber dann
muss die richterin in den Knast,
sammt
Schöffen!“
Da
dreht sich nun alles so herum, dass man schwindlig wird und sich
übergeben
möchte: Die Richterin ist die Mörderin, der Täter ist
das
unglückliche Opfer und
so gut wie tot und die wirklich tote Frau mit ihrem kleinen Kind - dumm gelaufen - hatte schließlich auf
der
Autobahn
nichts zu suchen… Denn wie es dort zugehen soll, lernt der
potenzielle
junge Autofahrer schon im Film – freigegeben ab 12 Jahren, denn
die
Kinder
können gar nicht früh genug an deutsche Autofreiheit
gewöhnt werden: Da muss also
ein Jungbulle Strafdienst
an einer Radarfalle
verrichten – und die ersten, die er schnappt, sind
ausgerechnet
die Autobahnraser, eine Bande von jungen Kerlen, die illegale Rennen
fahren. Der
Polizist schleust sich unerkannt in die Bande ein, vergisst sogleich
Ausbildung,
Amtseid und Gesetze und
erliegt wehrlos dem Geschwindigkeitsrausch.
„Busen,
Bullen und Boliden, rasante Action, coole Oneliner und jede Menge Fun -
das ist
das
Holz, aus dem dieses Bleifußabenteuer geschnitzt ist.
Regisseur Michael
Keusch und sein Team talentierter Jungstars räumen hier mit
dem
Vorurteil auf,
man könne in Deutschland kein Turbo-Feuerwerk à la
Hollywood zünden. Von diesem
hochtourigen PS-Spektakel werden
sich die Kids gerne in die Sofakissen
pressen
lassen“, schreibt die Videozeitung. Schluss mit dem dummen Gequatsche
von
Rücksicht,
Vorsicht, Umsicht und jeder anderen Sicht – frischauf,
Kameraden,
aufs Gas, aufs Gas, nur ab 200 ist der Mann noch was wert!
Wie
gesagt: Die deutsche Autobahn – die größte offene
Psychiatrie der Welt
„Ausg’stellt
oder
niederg’schnellt!“ – Ja,
wir waren damals auch im Geschwindigkeitsrausch, in dem ich manchmal,
wenn die
Endorphine durchs Gehirn rasten, sogar meine Angst vergessen habe, aber
wir
blieben in menschlichen Dimensionen. Wir
haben beim Rodeln
keinen in den Tod gejagt, es ist auch nie etwas
Ernsthaftes
passiert: Hin und wieder haute es einen ins Gebüsch, wenn ein
Schlitten
umkippte, und es flogen auch schon mal zwei in den Bach, der neben der
Rodelstrecke ins Tal brauste, dann gab es nasse Hosen und
vielleicht
ein paar
aufgeschürfte Knie oder Ellbogen oder einen verstauchten Finger,
aber vor allem
viel zu lachen, und auch alle
Winterwanderer blieben unversehrt.
Und ich? War ich denn nun,
wie
angekündigt, ein Held?
Damals gewiss nicht. Und
heute? „Du bist
kein Held, wenn du die Große Mauer nicht bestiegen hast“, sagen
die Chinesen.
Ich
habe die Große Mauer bestiegen, wan li chang cheng, die
unendlich lange
Mauer, letzten Sommer, an einem jener Tage, an denen du das
Gefühl
hast in einem
Schnellkochtopf zu sitzen, auf den sich gerade der Deckel herabgesenkt
hat, und
in deinem eigenen Schweiß vor dich hin
zu köcheln. Es gab
zwei Aufstiege –
einen sanften für Senioren und Gehbehinderte und einen steilen,
manchmal fast
senkrechten für
unge Menschen, für Sportler, für
Leistungsfrohe.
Welchen
sollte ich wählen? Ein geschenkter
Sieg macht nicht froh Leistung muss sich wieder lohnen gelobt sei was
hart
macht ich bin kein
WeicheiWarmduscherSchattenparkerNachts-im-Wald-PfeiferSitzkissenmitbringerNicht-neben-der-Freundin-FurzerDiesel-Handschuh-TankerMüsli
-selbst-ZubereiterWackeldackelfahrerKlorollenumhäklerHotelseifensammler
– ich bin
ein
Held, und weil ich ein Held bin, ist mir der Spott der
anderen egal.
Ich habe die Senioren-Route
gewählt.
Weit bin ich nicht gekommen,
denn meine
Frau weigerte sich entschieden sich auf die Seite der Senioren zu
schlagen, mit
denen sie –
vorläufig jedenfalls – nichts gemein habe, und
außerdem sei unser
Kai längst auf der Leistungsroute und Mutter und Kind dürfe
man nicht
trennen und
überhaupt solle ich mich nicht so anstellen. Also mutig wieder
zurück und den
anderen Weg genommen, den steilen Weg der
Tugend, der einem die
Schweißtropfen
wie Fontänen aus dem Leib schoss - genauer gesagt, aus der Stirn,
denn aus
einem mir selbst noch
nicht einsichtigen Grund verliere ich das Wasser
hauptsächlich über den Kopf. Einmal über das
schüttere Haupthaar gestrichen,
und schon
stürzt ein Wasserfall herab, der ein mittleres
Melonenfeld bewässern
könnte, wenn er nicht so salzig wäre. Aber ich bin das
steilste Stück
gegangen
und ganz oben angekommen und es war auch nicht schlimmer als die
einundsiebzig
Stufen, die wir früher zu unserer Wohnung
hinaufsteigen mussten.
Und als ich nun in mir
selbst gebadet und
in der Tiefenatmung leicht eingeschränkt da oben stand und zusah,
wie die Mauer
sich rechts
und links von mir in den Horizont wand und Bilder von
Mongolenhorden, die vergeblich gegen den Schutzwall anrennen, in meinem
inneren
Filmpalast an mir vorbeizogen, da wurde ich durch ein sanftes „excuse
me!“ aus
einem noch sanfteren chinesischen Frauenmund in die
Wirklichkeit
zurückgeholt. Vor
mir stand ein chinesisches Ehepaar mit seinem, na, sagen wir, 11
jährigen Sohn,
und druckste ein wenig in
bescheidenem, aber doch verständlichem
Englisch herum,
dass sie doch gerne, please, would you mind if my son – also, die Sache
war
die:
Sie wollten gerne ein Foto von uns zusammen mit ihrem Sohn machen.
Natürlich haben wir im
Geist der
traditionellen deutsch-chinesischen Freundschaft zugestimmt und den
Kleinen in
die Mitte genommen
und uns fotografieren lassen. Zu Hause wird er stolz
die
Bilder zeigen: Nicht nur, dass er auf der Großen Mauer stand,
nein, seht ihr,
da
bin ich mit zwei Langnasen, ßißie, thankyouvellymuch,
diese Langnasen sind
eigentlich ganz normale Menschen so wie wir auch und die
Frau war
besonders
freundlich.
Im Hotel
habe ich heimlich meine Nase im
Spiegel betrachtet. Ich finde sie überhaupt nicht lang. Diese
Chinesen sind
doch merkwürdig.
Ich bin auf die Große Mauer
gestiegen. Bin ich jetzt ein Held? Was
bin ich unter all den Männerrollen, die der Kampf der Geschlechter
v
om Mann
übrig gelassen hat: Softi, Macho, Chauvi, Neutralo, Macher,
Opportunist, Held,
Anpasser, Desorientierter, Formalist? Ganz einfach:
Ich weiß es
nicht. Ich bin
einfach ich.
Mein Onkel Hermann, Vaters ältester
Bruder, der Grübler, der Flieger, der auf seinem ersten Flug
tödlich
verunglückt ist, hat die Suche
nach sich selbst in ein kleines
Gedicht gefasst:
Ich
habe
mich so sehr gesucht
und
konnte mich nicht fassen.
Ich
hätte
mich so gern verlor'n
und
konnte mich nicht lassen.
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