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18. Februar:

     Waltraut ist ein eitles Äffchen. Letztes Mal bestand sie vor der Turnstunde darauf, einmal etwas anderes als das bis­herige Spielhöschen anzuziehen, “weil die anderen Kinder auch immer et­was anderes anhaben.“ Und so freute sie sich gestern auch besonders auf das Turnen, weil sie so ein nettes Kleid anhatte. Ich erzählte ihr eine schnell erfundene Geschichte von einen dummen eitlen Pfau — aber es machte ihr nicht viel Eindruck.     

     Helga war mit Detlev beim Halsarzt, der eine Wucherung hinter der Rachenmandel feststellte. Er war vorbildlich brav bei der Unter­suchung. Nun soll er zu einem späteren Zeitpunkt operiert werden. Er ist ja wohl immer noch raunzig und weichlich, geht aber tapfer dagegen an.  Als die Kinder einmal zum Rodeln angezogen wurden, kam er herein­stolziert: „Ich bin ein Held!“ Er hatte nämlich vor, ohne Heulerei den Abhang hinunter zu rodeln. Waltraut stellte aber nachher sachlich fest, dass er und Heinzel Feiglinge gewesen seien.  

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     Ein Held! Nun gut, ich gebe es zu, ein Held so im engeren Sinn war ich nicht, eigentlich eher das Gegenteil – meine große Schwester hatte mit ihrer tadelnden Bemerkung leider Recht. Den wilden Rodelabfahrten konnte ich nicht so viel abgewinnen, und auch später in Essen war ich jederzeit bereit, denjenigen zu glauben, die die 25 Meter lange, sanft abfallende Strecke im Margarethenwald als „Todesbahn“ bezeichneten. (Im Flachland nämlich, das habe ich später gelernt, mutierte jede einigermaßen abschüssige Straße zur Todesbahn.)

     Ein Held also war ich nicht, aber immerhin habe ich mich später nicht verdrückt, wenn es galt, die vier Kilometer lange Straße durchs Halltal hinunter zu rasen. Das war eine Rodelstrecke, von der die Ruhrgebiets-Flachlandtiroler nicht einmal träumten. Einen Vormittag lang stieg man da hinauf, von 578 bis in 1287 Meter Höhe – auf der Straße, die im Sommer von berggängigen Autos befahren werden konnte und zum Eingang des Salzbergwerks führte. Im Winter aber war diese Straße gesperrt und zum Rodeln freigegeben.

     Wenn wir oben waren, legte sich der Kühnste und Sportlichste (das war nun allerdings nicht ich!) auf dem ersten Schlitten auf den Bauch und wir anderen hängten uns alle daran und rasten in einer langen Schlange nach unten, laut schreiend, wie es junge Leute heute auf den Achterbahnen in den Disney-Welten und Fantasialändern und Heideparks dieser Welt tun, und ab und zu einem erschreckten entgegen kommenden Winterwanderpaar markerschütternd entgegen rufend: „Ausg’stellt oder niederg’schnellt!“(In norddeutsches Idiom übertragen, heißt das einfach: Platz gemacht oder umgenietet!). Die Betroffenen konnten sich dann eben noch zur Seite werfen und fassungslos die wilde verwegene Jagd an sich vorbeiziehen sehen, in der Gewissheit, dass die Walküren ihre luftigen Rösser gegen sehr irdische Rodelschlitten eingetauscht hatten.

     „Ausg’stellt oder niederg’schnellt!“ – ich schwöre es, ich habe diese ja eh nicht ernst gemeinte Mentalität nicht mit in mein Autofahrerleben genommen. Ich fahre nicht nach dieser Devise, wenn ich mich in Deutschlands größte offene Psychiatrie, das Bundesautobahnnetz, wage, dahin, wo täglich die aus den Käfigen der Bayerischen Motorenwerke entlassenen Raubtiere sich brüllend auf die mit dem Stern werfen und höchstens widerwillig mal einen Lamborghini oder Ferrari vorbeiziehen lassen, wo die Herren der (vier) Ringe in der TT-Version gnadenlos Lupo und Fox, Micra und Panda, Uno und Una und anderes Kleingetier jagen, wo aufgeplusterte Lieferwagen an der hinteren Stoßstange all derer hängen, die sich weigern, schneller als 150 zu fahren  und wo die hochgerüsteten V 10 TDI nebeneinander zu dritt auf zwei Spuren ihren permanenten Golfkrieg austragen. Wann werden für die Helden und Gefallenen dieses Krieges Denkmäler aufgestellt?

     Es war einmal ein Autofahrer, der für den Konstrukteur mit dem guten Stern auf allen Straßen Testfahrten machte. Seine Kollegen nannten ihn „Turbo-Rolf“, weil er, wie er vor Gericht zugab, gerne „zügig“ fuhr – das ist so, wie wenn ein Alkoholiker sagt: „Ich trink schon mal ein Bierchen!“ Turbo-Rolf hat zwei Menschen in den Tod gedrängelt und gehupt: Mit 240 Stundenkilometern ist er auf eine junge Frau zugerast, die es gewagt hatte, mit ihrem Kleinwagen die Bundesautobahn Nr. 5 zwischen Karlsruhe und Bruchsal zu befahren. Als sie das aus dem Nichts auftauchende 500-PS-Geschoss im Rückspiegel sah, verriss sie vor Schreck das Steuer, schleuderte und knallte gegen einen Baum.

     Es war einmal ein Autofahrer, den nannte man Turbo-Rolf. Er war auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz. Vor ihm, auf seiner Spur, die ihm allein gehörte, weil er ein 500-PS-Auto lenkte, fuhr eine junge Frau mit ihrem kleinen Kind in einem Kleinwagen. Hätte er gewartet, bis sie wieder auf der rechten Spur war, wäre er 20 Sekunden später zur Arbeit gekommen. Aber das mochte er nicht, da hätte er bremsen müssen, und er wollte nicht bremsen - Bremsen kostet Reifen, Energie, kostet Zeit und Kraftstoff.  Er hat nicht gebremst, sondern seine Xenon-Scheinwerfer aufleuchten lassen – Leuchtfeuer einer Gesellschaft, die das Auto mythisch verklärt und die Beschleunigung zum Grundwert erhoben hat, mögen da auch verirrte und verwirrte Schriftsteller die Entdeckung der Langsamkeit rühmen.

     Es war einmal ein Autofahrer, den verurteilte das Landgericht wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen zu einem Jahr Haft mit Bewährung, 12.000 Euro Geldbuße sowie einem Jahr Führerscheinentzug – das war der Tarif der Justiz für zwei Menschenleben: die junge Frau und ihre zweijährige Tochter. Zu wenig? Zu viel? Als der todkranke Maler Jörg I. sozusagen zum Abschluss seines Lebens eine große Kokain-Party veranstaltete und dabei erwischt wurde, gab es vom Landgericht Düsseldorf 11 Monate und 150.000 Euro Geldstrafe. Zwei Menschenleben gegen eine Koks-Orgie – wie wägt man das gegeneinander ab?

     Es war einmal ein Autofahrer, der hieß Turbo-Rolf und liebte es, in seinem Sportwagen mit den markanten Xenon-Scheinwerfern und den bulligen Auspuffrohren die Straße vor sich frei zu räumen. Er liebte den Adrenalinstoß, der seinen Körper durchströmte, wenn die Tachonadel sich der Marke 300 näherte. Er war als Fahrer eines Sportwagens Rudelführer, Alphatier, Herrscher über alles, was sich auf den Straßen bewegte. Er genoss die Autorität, die aus der Leistung seines Fahrzeugs entsprang. Er genoss die Macht und erwartete, dass die anderen diese Macht akzeptierten.  Jeder Überholvorgang ist ein Sieg, eine Möglichkeit den anderen zu demütigen.

      Es war einmal ein Autofahrer, den nannte man Turbo-Rolf  und der wurde als Sündenbock eines Volks von  Autobesessenen medial hingerichtet. Er war gar kein böser Mensch, er hatte, stellvertretend für eine Gesellschaft, die sich das olympische Motto „schneller – höher – stärker“ auf die Fahnen geschrieben hat, einfach das natürliche Bedürfnis auszuprobieren, welche Grenzverletzungen im Rahmen der bestehenden Strukturen noch akzeptiert werden. Das Auto als Schutzraum, seine Blechhaut als zweite Haut, die Isolation und Anonymität in dem metallenen Miniuniversum, das Gefühl von Freiheit, die Chance, die Missachtung sozialer Normen auszuloten in der Gewissheit, dass dies ja doch nur als Kavaliersdelikt angesehen würde, der Rausch der Geschwindigkeit, die Euphorie, das wachsende Gefühl der Allmacht – da werden Botenstoffe durchs Gehirn gejagt, die erlernte soziale Verhaltensweisen ausbremsen und in totale Rücksichtslosigkeit explodieren. Definition des sozialen Stellenwerts durch das Auto, eine Identität von der Stange, acht Zylinder zur Stimulation des Selbstwertgefühls. Das Auto als ultimative Möglichkeit, sich über die PS-Zahl, die Beschleunigung, die Überholfähigkeit zu definieren und zu stabilisieren.

     Es war einmal ein Autofahrer, den nannte man Turbo-Rolf.  Er raste mit seinem Sportcoupé durch eine Aufstiegsgesellschaft, die im festgenagelten Blick auf das, was sie als Fortschritt ansah, den Ellbogen und den Fuß auf dem Gaspedal für die wichtigsten Körperteile hielt. Und vor sich sah er das Plakat, das zur Chiffre dieser fortschrittsbesessenen automobilen Gesellschaft geworden war, die Jahrhunderte der Aufklärung hinter sich gelassen und sich ganz dem grenzenlosen Gefühl des Vorankommens hingegeben hatte : Eine sechsspurige Autobahn, die auf die Skyline von Manhattan zuführt  – Fluchtpunkt Amerika, Ziel eines Volks, das die Katastrophe seiner Vergangenheit vergessen und seiner biederen Provinzialität entfliehen wollte. Vorsprung durch Technik, nur Fliegen ist schöner – Affirmation der reinen Technik.

     Es war einmal ein Autofahrer, den nannte man Turbo-Rolf, und die Zeitungen, nicht nur die mit den großen Buchstaben, prügelten auf ihn ein, als sei er eine singuläre Erscheinung, ein Monster in einer disziplinierten, gesetzestreuen und von Vernunft, sozialem Verantwortungsgefühl und Liebe zum Mitmenschen im Kleinwagen geprägten Welt. Aber stellte sich diese Welt so dar? Gab es einhellige Empörung über den Drängler und Raser? Mitnichten! Empört waren all  die mit dem Gaspedal Verwachsenen, die „Jetzt komm ich!“ und „scheiß auf andere“- Propheten, die mittelmäßigen, krankhaft egoistischen Profilneurotiker, die mit einer Backe immer noch im Sandkasten sitzen und das Wort „Verantwortung“ für eine Erfindung der von ihnen verachteten „Gutmenschen“ und Öko-Spinner halten. Sie empören sich darüber, dass Turbo-Rolf verurteilt worden ist, und warum, bitte schön? Doch nur, weil das Opfer eine Frau war und die Richterin auch und Frauen vom Autofahren sowieso keine Ahnung haben und gefälligst vor dem Kochtopf bleiben sollen, wo sie hingehören, statt die linke Spur zu befahren und so den Mann an seinem rechtmäßigen Vorankommen zu behindern.

    Na gut (und hier erlaube ich mir einmal,  die Rudi Völlersche Gesprächs-einleitung zu benutzen, die inzwischen durch „O.k“ mit nachfolgendem „wie gesagt“ ersetzt worden ist, auch wenn vorher noch gar nichts gesagt worden war), na gut also, wenn es einer so übertreibt wie der 67-jährige Professor, der mit seinem auf 10 Stundenkilometer hinuntergedrosselten Krankenfahrstuhl von Herne nach Osnabrück auf der Autobahn fahren wollte und den staunenden Polizisten erläuterte, frühe sei man schließlich auch nicht so schnell gefahren, dann kann man als Autofahrer wohl die Nerven verlieren, aber zwischen zehn und zweihundertfünfziog sind ja noch ein paar Abstufungen denkbar…