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21. Jänner:

     Bei Vater Luft war Helga mit den Kindern zu Besuch. Sie schaute mit ihm alte Bilder an und fand unter anderen eine der ersten Aufnahmen von Waltraut, wo sie wie ein kleines Mongolenkind aussieht und wo Helga sie sehr liebevoll an sich drückt. Helga meinte zu Vater Luft:

     „Wie hässlich doch Waltraut damals war!“ Waltraut schnappte diese Bemerkung auf und fragte:
     Warum hast du mich dann doch geliebt?“

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      „Vater Luft“ – das klingt irgendwie nach Shakespeare, nach Sommernachtstraum, nach Elfentanz oder nach Ariel, dem luftigen Diener Prosperos  (nicht dem Waschmittel, mit dem die resolute und rüstige Klementine Jahrzehnte lang die Wäsche nicht nur ein-, sondern sofort reinweichte)  - aber nichts davon stimmt: Vater Luft ist kein Symbol, keine Metapher, sondern eine ganz reale Person, genauer: Der Vater von Tante Erna, einer Schwägerin meiner Mutter. Tante Erna war die Mutter meiner Cousine Helga, die einige Jahre bei uns in Hall gewohnt hat und meine erste Liebe war, wie sich das in den besseren Kreisen gehört – und bessere Kreise waren wir, wie schon gesagt, allemal, wir hatten bloß nicht das nötige Geld, um das auch nach außen hin zu demonstrieren…

     Eigentlich lebte Tante Ernas Familie ja in Bozen, aber weil die beiden Töchter das Gymnasium besuchen sollten und es in Bozen damals kein deutschsprachiges gab, gingen sie in Innsbruck zur Schule. Helga wohnte also bei uns und ihre große Schwester Ingeborg bei den Großeltern Luft – das waren Oma Luise und Opa Rudi. Die nannten wir der Einfachheit halber auch so, weshalb wir trotz des frühen Todes von Opa „Lütte“, dem Vater meines Vaters, zwei Großväter und drei Großmütter hatten, was sich in Bezug auf Geschenke und ähnliche Vergünstigungen allerdings nicht weiter positiv auswirkte, denn die Lufts waren von guter alemannischer Art, das heißt sauber und sparsam – man könnte auch geizig sagen, aber das wäre natürlich ganz gemein.

     Opa Rudi, der besagte „Vater Luft“, ist mir vor allem dadurch in Erinnerung, dass er ständig keine Luft bekam, weil er nämlich wegen seiner Angina pectoris sehr kurzatmig war, was er bei jedem Besuch durch heftiges Röcheln und Schnaufen demonstrierte,  ehe er es sich auf Oma Friedas Ottomane, die ihr auch als Bett diente, bequem machte. (Eine Ottomane , so erfuhr ich später, ist nicht einfach das, was wir heute als Sofa bezeichnen, sondern etwas Flacheres, ein Möbelstück aus den Palästen des Orients, an den Reichtum der Sultane erinnernd, an Osman den Ersten, den Gründer der Dynastie der Osmanen, an Harun-al-Ra-schid, an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, an Scheherazade, an roten Plüsch und schwere orientalische Parfums und einen Hauch von verbotener, zumindest aber sehr fragwürdiger Erotik. Dass man in diesem Wort die türkisch-arabisch-französische Herkunft des bezeichneten Sitz- und Liegemöbels noch erkennen konnte, gab ihm den Anstrich des Besonderen, des Exotischen im Gegensatz zu dem banalen Sofa, das zwar auch arabisch ist, was aber keiner weiß.) Omas Ottomane war nun allerdings weder samten rot noch plüschig, sondern schon recht verschlissen, und es fanden auf den knarzenden Federn auch keinerlei verbotenen Liebesspiele statt – das einzige, was neben Omas Schlaf darauf stattfand, war Opa Rudi. Dabei rauchte er ungerührt und unentwegt Zigarren und zwischen zwei „Handelsgold Fehlfarben“ tat er das, was er schon bei seinen frühen Besuchen in Mils getan hatte: Er fotografierte uns ständig. Im Nachhinein gesehen, war solches Tun durchaus nützlich, denn wir hatten keinen Fotoapparat und einen Fotografen hätten wir uns schon mal gar nicht leisten können. So sind fast alle Familienfotos aus der Zeit von Opa Rudi, wofür er heute noch gesegnet sein soll.

     Helgas Aufenthalt bei uns war übrigens auch Auslöser für eine Szene, die schon damals das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir aufs schwerste belastete. Wir vier Kinder schliefen alle in einem Zimmer, und da ging es abends natürlich schon mal durchaus fröhlich zu, sehr zum Missfallen meines Vaters, der nebenan sein Ruhebedürfnis zu befriedigen suchte. Eines – offenbar besonders fröhlichen - Abends riss er denn auch auf einmal die Schlafzimmertür auf und verkündete:

     Wenn noch einer einen Ton sagt, bekommt der Detlev eine Ohrfeige!

     Das mag ja vielleicht Erziehung zur Solidarität gewesen sein, das war ja vielleicht in der Kaserne möglich, vielleicht auch in der HJ oder unter Pfadfindern, aber sicher nicht unter drei kichernden Mädchen und einem völlig verständnis- und orientierungslosen Jungen von vielleicht elf Jahren.     

     Ob ich an diesem Abend tatsächlich eine Ohrfeige bekommen habe, weiß ich nicht mehr - wohl eher nicht, denn sonst würde ich mich wahrscheinlich daran erinnern, - aber dieser für mich unbegreifliche Satz, der mir mehr ins Gesicht klatschte, als es jede Ohrfeige getan hätte, stand am Anfang einer langen Reihe unbegreiflicher Sätze, an deren Ende der Verlust von Liebe und Vertrauen wartete.

                                                                                    
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