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26. Dezember:

   Detlev ist das Weihnachtsfest schlecht bekommen. Es hat den Anschein, als sei durch die Aufregungen die ganze kleine Persönlichkeit aus den Fugen geraten. Er ist unleidlich, unverträglich und schaut auch blass und angegriffen aus. Das ist eine Warnung. Er scheint ein sehr empfindsames Innenleben zu haben und bedarf zu seiner Entwicklung äußerster Ruhe und Schonung.

   Die Kinder bekamen heute früh einen Brief vom Christkind, in dem es sich beklagt, dass die Spielsachen gestern Abend nicht aufgeräumt waren. Das Christkind droht ihnen unverblümt an, ihnen das nächste Mal die Spielsachen wegzunehmen, bis sie sich gebessert haben. Detlev hat die Sache sehr ernst genommen. Es wäre doch geradezu entsetzlich, wenn einer der schönen Baukästen verschwinden würde. So hat er sogar heute Vormittag vor dem Spazierengehen aufgeräumt.

27. Dezember:

   Die Aufführung des Tanzduetts war übrigens ein völliger Reinfall. Waltraut war mit Feuer und Flamme dabei und hat ihre Sache auch gut gemacht. Detlev hat jedoch vollständig gestreikt. Waltraut war höchst indigniert und hat ihn dauernd verbessert. Aber man darf ihn nicht mehr zu solchen Sachen zwingen. So gerne er sonst singt - die Schaustellung ist ihm eine Qual.


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   Das, denke ich, hat die Tante Inge nicht ganz richtig gesehen: Wer jemals erlebt hat, wie ich trotz der verzweifelten Proteste meiner lieben Frau öffentlich Vico Torrianis "Zwei Spuren im Schnee" gesungen habe, mit dem gleichen Schmelz, der gleichen Hingabe und dem gleichen gerollten Zungen-R, das diesen begnadeten und so sehr verkannten Künstler auszeichnete, der wird Tante Inges Psychoanalyse zumindest als voreilig abtun müssen. Nein, das öffentliche Singen hat mir nie etwas ausgemacht, und gelegentliche kränkende Publikumsreaktionen wie beim Karaoke in Cesenatico vor ein paar Jahren können mich nicht davon abhalten, es auch weiter zu tun. Aber ich glaube, die Tante Inge hat einfach nicht genau genug hingesehen: Es war nicht das Singen, sondern das Tanzen, gegen das sich alles in mir sträubte - und das ist etwas, was mir bis heute geblieben ist. Mit Schauder denke ich an die Tanzschule - so etwas hat man ja früher in den besseren Kreisen einfach besucht, und wir hatten zwar kein Geld, aber bessere Kreise waren wir allemal. Tanzunterricht also, das gehörte sich, da wurde gar nicht gefragt, ob man Lust dazu hatte; aber ich fand, dass der Zwang, dieses Etablissement zu besuchen, meine Menschenwürde in Frage stellte und mit der Genfer Konvention kaum zu vereinbaren war. Schon der Foxtrott war mir im höchsten Grade verdächtig, beim Wiener Walzer wurde mir schlecht und der Tango, ach, der Tango - das war etwas, was mich hoffnungslos überforderte. Das verstörendste Gefühl dabei war, dass ich meinte, überhaupt nicht mehr den Boden zu berühren - nicht etwa, weil ich gemeint hätte zu schweben, sondern weil ich beständig auf den Füßen anderer Leute, zumeist meiner unglücklichen Tanzpartnerin, stand. Und die wiederum war mir ja auch zugeordnet worden - irgendeine Tochter irgendeiner Freundin meiner Mutter: Frauen neigen ja auf heftigste Weise zur Kuppelei.

   (Zu meiner Ehrenrettung muss ich aber betonen, dass ich später, als ich meine Tanzpartnerinnen selbst aussuchen durfte, den Klammerblues ausgezeichnet beherrschte: Da gab es keine komplizierten Schrittkombinationen, da musste man nicht "vor - chassez - Schritt" abzählen oder "wiegen - wiegen - cha-cha-cha", sondern nur darauf achten, das Gewicht gelegentlich vom linken auf den rechten Fuß zu verlagern, nicht aus dem Mund zu riechen und im Übrigen die Hände an der richtigen Stelle zu haben.)

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     Gundula erweitert ihren Sprachschatz täglich. Wenn man ihr etwas vorsingt oder vorerzählt, was ihr gefällt, dann sagt sie: „Weiter!“  Von ihrem Vater weiß sie noch nichts, aber Waltraut, die Große, hat Erinnerungen an deinen letzten Besuch, und neulich, als der kleine Heinzel nach seinem Vater rief, sagte sie ganz sehnsüchtig: ,,Mein Vati soll auch einmal kommen!“
Und dann rief sie ganz laut:
,,Vati, komm!“

28. Dezember:

   Detlev erzählte uns begeistert von seinem guten Abendessen: Milchpapperl (das muss für Menschen nördlich des Weißwurstäquators übersetzt werden: das ist einfach Milchbrei) mit Schokolade und Orangensaft.


„ Wie heißt Orange auf Deutsch?
- Apfelsine.
- Gell, wir reden immer deutsch, weil wir Deutsche sind.
- Ja, Gott sei Dank, sind wir Deutsche.
- Und den Deutschen haben sie alle Schießgewehre weg genommen, nicht? Und da waren die Franzosen noch nicht da, wie wir unsere Gewehre noch gehabt haben. Wo waren sie da?
- In Frankreich, da sind sie zu Hause. Die Deutschen leben in Deutschland, die Franzosen in Frankreich und die Amerikaner in Amerika.
 - Ja, die Amerikaner sind vom Vomperberg nach Amerika gefahren.“
 - Und wo sind wir?“

   Ich habe ihm dann erklärt, dass wir wohl auch Deutsche sind, aber nicht in Deutschland, sondern in Österreich leben. Detlev ist darauf ganz eifrig zu Helga gelaufen:
,,Mutti, gell, die Deutschen leben in Deutschland und wir sind auch Deutsche und leben in Österreich!“

   Waltraut erzählte der Oma Else, dass der kleine Heinz immer betet am Abend und sie wollen jetzt auch beten. Als sie im Nachthemdchen zum Gutenachtsagen zu uns hereingehuscht kam, lernte sie von der Oma das Gebet: "Ich bin klein" usw. Sie hatte es furchtbar wichtig und wiederholte: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen — Amen.“

   Dann habe ich ihr noch gesagt, sie solle an das Gebet anfügen:
„Lieber Gott, mach die Oma Frieda (die gerade mit Ischias im Bett liegt) wieder gesund!“

   Wir hörten sie dann im Nebenzimmer das Gebet immer wiederholen und Detlev beibringen. Zum Schluss kam noch ein Gebet für dich:
„Schlaf gut, Vati, Amen.“

   Beide Kinder konnten dann kein Ende finden und wurden immer wieder ermahnt, mit Singen aufzuhören. Detlev musste jedoch noch „Amen“ singen, „weil das in der Kirche auch so ist.“

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     Später, als wir in einem einzigen Zimmer beim Stern-Bauern in Mils wohnten, habe ich die Tradition der erweiterten Gebet fortgeführt. Von der Oma Else hatten wir gelernt:


 Lieber Gott, kannst alles geben,
gib auch, was ich bitte, nun:
Schütze diese Nacht mein Leben,
lass mich sanft und sicher ruhn.
Sieh auch von dem Himmel nieder
auf die lieben Eltern mein,
lass mich alle Tage wieder
fröhlich und dir dankbar sein.

 
     Nicht, dass ich etwas dagegen gehabt hätte, dass der liebe Gott ein Auge auf die Eltern werfen sollte, aber erstens waren die Eltern ja nicht so zahlreich und überhaupt nur zur Hälfte vertreten und zum anderen waren mir in meiner Welt umspannenden Menschenliebe auch andere wichtig. So ergänzte ich die sechste Zeile des Gebets durch: „auf die lieben Eltern, Großeltern, Geschwister, Verwandten und Bekannten mein“, was das Gedicht natürlich rhythmisch etwas aus dem Gleichgewicht brachte, dafür aber doch den Vorzug enormer politischer Korrektheit hatte…
 
      Anschließend an das Nachtgebet pflegten wir übrigens den Teufel zu verjagen, mit markigen Worten wie „Geh weg, Teufel!“ oder „Teufel, verschwinde!“ - was natürlich Kinderkram war verglichen mit den gewählten Worten meiner großen Schwester Waltraut, die aufgrund ihrer Erfahrungen im Pfarrhaus bei der Oma Else die Worte der Fachsprache wählte und in der Art führender Exorzisten rief: "Satan, weiche!"

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     Detlev ist ein rechtes Kriegskind. Neulich meinte er: „Weißt du, wenn wir Zucker haben, dann mag ich den Kaffee mit Zucker. Wenn wir aber keinen haben, dann mag ich ihn ohne Zucker!“

     Heute beklagte er sich, dass der Kaffee nicht gut sei. Darauf bekam er eine lange Vorlesung zu hören, dass viele froh wären, wenn sie solchen Kaffee hätten, dass die armen Negerkinder... und überhaupt.... Er hörte ganz ernsthaft zu und meinte dann:“ Der Kaffee schmeckt mir gut.“


    
  
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