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21. Dezember:
    Detlev setzte sich meinen Hut schief auf den Kopf und meinte dann lachend: „Jetzt schaue ich aus wie ein Franzos’.“
   „Möchtest Du denn wie ein Franzos ausschauen‘?“— Da machte er ein ganz betroffenes Gesicht und mit einem energischen „Nein“ nahm er gleich den Hut ab...

   Waltraut u. Detlev waren mit dem Opa in der Stadt. Dort war Hochbetrieb, noch mehr Autoverkehr als sonst, wahrscheinlich zur Befriedigung der französischen Weihnachtswünsche. Darunter war auch ein ganzer Wagen voll von Steckenpferden für französische Kinder. Waltraut war empört. ,,Jetzt gehen wir und nehmen ihnen alle Steckenpferde weg!“ - eine Radikallösung des Gerechtigkeitsproblems, die uns wahrscheinlich doch in größere Schwierigkeiten gebracht hätte, weshalb der Opa seiner kämpferischen Enkelin denn auch energisch davon abriet.


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      Warum sah man mit einem schiefen Hut aus wie ein Franzose?
        Warum war es schlimm, wie ein Franzose auszusehen?


     Die erste Frage lässt sich leicht beantworten: Die französischen Soldaten trugen ihr "képi", ihre Soldatenmütze, schief auf dem Kopf, warum auch immer - vielleicht war das der berühmte Pariser Chic.

     Die zweite Frage ist etwas verwickelter. Natürlich, die Franzosen waren unsere Feinde. Sie hatten den Krieg gewonnen und deshalb durften sie ihre Fahne aufhängen und ihre Gewehre behalten und ihren Kindern ganze Wagenladungen von Steckenpferden zu Weihnachten schenken. Sie waren die Besatzer und sie hatten uns aus unserer schönen, großen Wohnung in Hall einfach "hinausgeschmissen", denn die Wohnungen der aktiven Nazis wurden als erste beschlagnahmt. Zwölf Stunden Zeit wollten sie uns zum Räumen geben, aber da hatten sie nicht mit meiner Mutter gerechnet: Schnurstracks machte sie sich auf zum Stadtkommandanten und erwirkte eine Verlängerung der Frist auf 24 Stunden. Wie ihr das gelungen ist? Der Kommandant war halt ein Franzose und dem Charme einer jungen deutschen Frau und Mutter hilflos ausgeliefert...

     Also, unsere Feinde waren die Franzosen allemal und unbestritten, aber dann doch auch wieder ungeheuer interessant, ja, sie hatten geradezu etwas Exotisches, um so mehr, als unter ihnen ja auch Soldaten aus den Kolonien waren, dunkelhäutige Männer mit undurchdringlicher Miene. Das war faszinierend, und weil wir mit ihnen ja nicht "anbandeln" sollten, war es um so faszinierender.

     (Manchmal allerdings missbrauchte ich "die Franzosen" auch einfach als "bouc émissaire", als Sündenbock - dann nämlich, wenn mich plötzlich, zumeist abends im Bett, die zwanghafte Lust überkam, unerhört sündige Gedanken zu formulieren - im Kopf natürlich nur, aber der liebe Gott kann bekanntlich auch die Gedanken lesen und wäre über den
wie giftiger Nebel aus meinem verdorbenen Gehirn  aufsteigenden Satz "Der liebe Gott ist ein Spinner" wohl ernsthaft böse geworden und hätte mich vermutlich für verschärfte Höllenqualen vorgesehen. Um solchen  Qualen zu entgehen, fügte ich deshalb listig den Satz an: "...sagen die Franzosen"  und baute auf diese Weise den Feind als Abwehr vor den Angriffen des Satans oder seiner höllischen Sendboten vor mir auf - sozusagen als innere Viererkette. Ein ungemein kluger Schachzug, fand ich: Ich war entschuldigt, da ich die schlimme Entgleisung unseren bösen Feinden zugeschrieben und mich vorsichtshalber auch noch ziemlich heftig darüber empört hatte - auch dies natürlich nur in Gedanken. Damit war ich aus dem Schneider und die Franzosen mussten nun zusehen, wie sie mit den Höllenqualen, die ihnen zweifellos zugefügt würden, fertig werden sollten. Dass es sich bei meinen Gedankenexperimenten um eine subtile Form übler Nachrede handelte, kam mir damals nicht in den Sinn: Die Franzosen waren unsere Feinde, und als solche sagten sie bestimmt auch so böse Sätze. Wer lügt, stiehlt auch und zeigt alten Frauen nachts den falschen Weg. Wer uns aus unserer Wohnung rausschmeißt, uns unsere Fahne nicht aufhängen lässt und uns die Steckenpferde wegnimmt, der sagt auch, dass der liebe Gott ein Spinner ist...  )

     Später, als wir wieder in Hall wohnten und ich auch schon ein bisschen Französisch konnte - denn natürlich war in Tirol während der Besatzungszeit Französisch die erste Fremdsprache in der Schule - da erfuhr ich dann, dass an den Franzosen gar nichts besonders Exotisches war, dass sie essen und trinken wollten wie wir, dass sie Fußball spielten oder dabei zusahen und sich dann genau so aufregten wie wir, dass sie sich zum Pinkeln in die Büsche schlugen, dass sie allerdings zum Essen immer Rotwein tranken, auch die Kinder, weshalb diese nie richtig wachsen wollten, und dass viele von ihnen lieber mal in den Puff gingen, als auf Deutsche zu schießen. (Noch viel später ist diese lobenswerte Einstellung unter dem Motto "Make Love, not War" von San Francisco aus für eine kurze friedvolle Hippie-Zeit um die ganze Welt gegangen, zum Teil mundartlich interpretiert als "poppe, net kloppe"...) Da wir nun eine private Variante eines solchen Freuden-Instituts im Haus hatten, machte ich früh damit Bekanntschaft - ohne allerdings auch nur im Geringsten zu ahnen, um was es da ging: Ich wurde bloß Nacht für Nacht durch heftiges Klingeln geweckt, weil nämlich die betreffende Nachbarin, die sich durch die herzlichen Kontakte mit dem Feind ein kleines Zubrot verdiente, keine Klingel an der Haustür hatte und die liebestollen und verkehrswilligen jungen Männer unsere für ihre hielten.

    Eines Nachts wurde mir diese Klingelei zu bunt und ich riss dass Fenster zur Straße auf und schrie mit meiner vermutlich wenig abschreckenden, aber gleichwohl zornbebenden vorpubertären Stimme in bestem Französisch: "Finissez de sonner!" Ein geradezu bestürztes "Ah, c'est chez vous?" antwortete mir von unten, und nachdem ich
dies empört bestätigt hatte, war Ruhe, nicht nur diese Nacht, sondern überhaupt. Ich vermute, dass in französischen Lust-Kreisen ernste Warnungen ausgesprochen wurden, Warnungen vor einem Sittenwächter, mit dessen teutonischem Ingrimm nicht zu spaßen sein würde...

   Wie ein Franzos' wollte ich damals also keineswegs aussehen, hat mir die Tante Inge suggeriert. Was zum Teufel hat mich dann bloß dazu gebracht, Sprache und Kultur dieses Feindes zu studieren und das Lehren der Sprache dieser Menschen mit den schiefen Mützen und den vielen Steckenpferden zu meinem Broterwerb zu machen? Ich weiß es ja, aber das gehört nicht hierher. Cherchez la femme, sagen die Franzosen in so einem Fall - suche immer die Frau, die dahinter steckt...

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23. Dezember:

   Waltraut und Detlev waren in der Kirche im Krippenspiel. Helga erzählte, dass Waltraut beim Erscheinen der Krippe mit dem Christkind ganz andächtig mit gefalteten Händen da saß. Detlev hatte immer Fragen zu stellen. Beide waren begeistert.

   Seit dem 1. Dezember beschäftigen sie sich mit einem Adventshäuschen, auf das beide Kinder sehr stark ansprechen. Abwechselnd dürfen sie jeden Tag ein Fensterchen aufmachen. Ihre Erwartung ist jetzt wirklich auf dem Höhepunkt. Besonders Waltraut steht stark unter dem Eindruck des kommenden Christkinds. So hat sie heute eine Anwandlung zum Ungehorsam Helga gegenüber ganz bewusst unterdrückt, ist dann Helga nachgegangen, hat sie umarmt und innig zu ihr gesagt: „Muttile, ich will dir auch immer nur Freude machen!“

   Helga hat die Kinder in die Christmette mitgenommen. Detlev, der allen Dingen auf den Grund gehen will, ließ sich von der heiligen Atmosphäre nur sehr bedingt ansprechen. Als vor Beginn der Ansprache das elektrische Licht abgedreht wurde, damit nur noch die Christbäume leuchteten, fragte er seine Mutter laut:

   "Warum haben sie das Licht ausgedreht? Müssen sie sparen?“


   Die Kinder gehen mit den großen wirtschaftlichen Problemen, die uns Älteren zuweilen sehr zu schaffen machen, ganz selbstverständlich um. Es ist wohl eine gute Schule für ihr späteres Leben - für die Zeit, in der wir wieder in geordneten Verhältnissen leben können, in einem Land, in dem wir selbst wieder bestimmen können, wann und wem der Strom abgedreht wird.

   Das Christkind aber hat solche Gedanken verscheucht - es ist wirklich gekommen und die Kinder gingen restlos in der Weihnachtsfreude unter.


25. Dezember:
   Waltraut spielt neuerdings mit Heinzel gern, dem Sohn von Pfarrer Sauer. Dabei führt aber sie das Kommando. So spielten sie neulich Mann und Frau zusammen. Waltraut legte sich auf die Bank zum Schlafen. Heinzel wollte sich neben sie hinlegen. Da sagte sie mit Kommandostimme zu ihm: „Mann, dein Bett ist unterm Tisch! Geh hinunter!“ Was Heinzel auch gehorsamst tat. Nach einer Weile ist sie aber dann zu ihm gekrochen.


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   In Korea, höre ich, sind es die Frauen, die ihre Männer schlagen, nicht umgekehrt wie in der restlichen Welt. Nun hat man der Waltraut ja schon öfter nachgesagt, ihr Gesicht habe so etwas leicht Japanisch-Ostasiatisch- Kirgisisch-Gestepptes - vielleicht ist es ja auch koreanisch? Vielleicht enthüllt sie da ein genetisches Potenzial, von dem wir alle nichts wussten - wer weiß, ob nicht irgendein Urahne Seefahrer war und an Koreas Gestaden gestrandet ist? Es soll ja Fälle geben, wo Erbanlagen mehrere Generationen übersprungen haben...


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