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"Ich mach dich Messer!"
Kiezdeutsch fasziniert Sprachforscher

Wissen Sie, was Jugendliche meinen, wenn sie "Machst du rote Ampel" sagen? Sprachforscher, die sich auf einer Tagung dem Phänomen "Kiezdeutsch" widmen, haben es entschlüsselt - "ischwör, Alter!"

Wenn 16-Jährige "Ich mach dich Messer" oder "Machst du rote Ampel" sagen, belauscht Sprachforscherin Heike Wiese sie gern. Was Lehrer erschauern lässt und Komödianten reizt, ist für die Wissenschaftlerin an der Universität Potsdam ein spannender neuer Dialekt aus Großstädten mit hohem Migrantenanteil. "Kiezdeutsch" nennt sie diese Sprache, die in Berlin zum Beispiel in Kreuzberg und Neukölln zu hören ist. Auf einer Tagung der Deutschen Akademien der Wissenschaften will Wiese am 27. Mai beweisen, dass Kiezdeutsch keine Gefahr für die Sprache ist. Sie sieht es als Bereicherung.

Forscher: Sprache wird reicher

Zum ersten Mal wurde Heike Wiese vor einigen Jahren im M29 auf ein seltsames Deutsch aufmerksam. Der M29 ist ein gelber Berliner Doppeldecker, der alle zehn Minuten von der alten Berliner Welt in die neue fährt - aus dem stillen Villenvorort Grunewald nach Kreuzberg, Richtung Görlitzer Bahnhof. Klein-Istanbul nennen manche diesen Kiez, denn hier leben die meisten der mehr als 100 000 Berliner mit türkischen Wurzeln. Als die Germanistin im Bus Sätze wie "Morgen geh ich Kino" oder "Ischwör Alter, war so" hörte, drehte sie sich neugierig um. Was sie sah, überraschte sie. Da sprachen keine türkischen Jungs. Es waren deutsche Teenager. Was dort passiert war, machte die Germanistin bald zu einem Forschungsprojekt an der Uni.

Es ist nicht das einzige neue Sprachphänomen, von dem Wissenschaftler in dieser Woche in Berlin berichten wollen. Es geht ums "lol" in der Chatsprache, Abkürzung fürs Englische "laugh out loud" (laut lachen), oder um kreative Jugendsprache wie "derbe flashen" (stark beeindrucken). Für Akademiepräsident Günter Stock ist Sprache seit dem Grimmschen Wörterbuch ein zentrales Element für Wissenschaftsakademien. Um die Zukunft des Deutschen macht er sich keine Sorgen. "Sprache bleibt ein vitales Element, und sie entwickelt sich fort", sagt er. Ärmer, glaubt Stock, werde das Deutsche durch die vielen neuen Einflüsse und den schnellen Wandel nicht. "Wir nutzen und pflegen den Reichtum unserer Sprache nur nicht mehr so wie Goethe", bedauerte er.
     

Die wenigsten können kein Hochdeutsch

Das könnte in den Ohren Kreuzberger Lehrer sehr akademisch klingen. Hier klagen Grundschulpädagogen inzwischen darüber, dass nur ein Fünftel ihrer Schüler dem Unterricht gut folgen kann. Der Rest habe Probleme mit dem Deutschen. An den weiterführenden Schulen hören Lehrer Sätze wie: "Mein Vater geht Moschee mit Lederhose". Und das soll keine bedrohliche Entwicklung sein?

Sprachwissenschaftlerin Wiese sieht es differenzierter. Kiezdeutsch werde für Jugendliche nur zum Problem, wenn sie kein Hochdeutsch beherrschten, sagt sie. Das sei aber nur eine kleine Minderheit. Das merkten ihre Studenten, als sie Kreuzberger Jugendliche für Kiezdeutsch-Analysen interviewen wollten. Sie erhielten Antworten auf Hochdeutsch. Für das Forschungsprojekt baten die Forscher die Jugendlichen schließlich, Gespräche in ihrer Clique aufzunehmen. Als Anreiz gab es ein kleines Honorar.

"Kiezdeutsch" kein "falsches Deutsch"

"Die meisten Teenager nutzen Kiezdeutsch nur als Zweitsprache, manchmal auch als Provokation", sagt Wiese. "Sie können auch anders." Bei der Jugend in Kreuzberg komme noch etwas hinzu, was Germanisten sonst in bayerischen Dörfern beobachten: Wer Hochdeutsch spricht, gerät schnell in den Verdacht, die Nase sehr hoch zu tragen.
"Kiezdeutsch ist keine Frage von Herkunft und Muttersprache, sondern vom Wohnort", betont Wiese. Es sei weder "falsches Deutsch" noch eine "Ausländersprache". Die 42-jährige Sprachforscherin lebt selbst in Kreuzberg. Sie rechnet damit, dass auch ihre kleinen Töchter irgendwann den Lokal-Dialekt sprechen. "Ich mach dich Messer" heißt übrigens übersetzt "ich greif dich an". "Machst du rote Ampel" steht für: du gehst bei Rot über die Straße.
Wessen Hut?

Frei von den Verkürzungen und Vereinfachungen der Kiezdeutsch-Grammatik ist auch das Standarddeutsch nicht. "Haltestellen-Deutsch" nennt Wiese, was sich wohl ganz unabhängig von Migration in den Alltag eingeschlichen hat: "Ich bin jetzt Friedrichstraße" oder "Ich steig Zoo aus". Das sage auch ein 50-jähriger Anzugträger aus dem Grunewald, hat Wiese festgestellt. Wie groß die Zustimmung zu lokalen Sprachgewohnheiten sein kann, hat sie in einem Göttinger Kaufhaus belauscht. "Das ist meiner Mutter sein Hut", sagte dort ein kleiner Junge. Das heiße "meiner Mutter ihr Hut", verbesserte die Kassiererin und erhielt zustimmendes Nicken aus der Warteschlange. So weit hat es Kiezdeutsch noch lange nicht gebracht.
(Ulrike von Leszczynski, dpa, N24)

25.05.2009 14:05 Uhr