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Ich über mich | Olympia 1972 | Essener Songtage 1968 |
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An
einem Tag früh im Januar 1954 küsste Chien Si,
Oberstleutnant der vietnamesischen Armee, vor seinem Aufbruch aus dem
Luftschutzbunker seine jüngste Tochter noch einmal besonders
innig. Diesmal
habe er Angst, nicht zurückzukommen, gestand er seiner Frau. Die
Kleine solle
deshalb von nun an einen Namen tragen, der sie immer an ihn, ihren
Vater,
erinnern möge: Viet-Duc, also: Deutschland-Vietnam. Denn Chien Si
hieß
eigentlich Erwin Borchers und war 1906 im damals deutschen
Straßburg als Sohn
eines preußischen Offiziers und einer elsässischen
Weingutstochter geboren
worden. Den Namen Chien Si – der Kämpfer – hatte ihm Ho Chi Minh
verliehen,
zusammen mit einem Orden, als Anerkennung für seine Dienste beim
Viet Minh, der
vietnamesischen Befreiungsbewegung. Borchers hatte seine vietnamesische Frau
und seine drei Kinder schon oft in Viet Bac, dem nördlichen
Rückzugsgebiet des
Viet Minh, zurückgelassen, aber diesmal war es etwas anderes –
diesmal stand
eine große Schlacht bevor, die entscheidende. Wie Erwin Borchers verließen in
diesem
Winter Tausende Viet-Minh-Soldaten ihre Erdbunker, Felshöhlen und
andere
Verstecke und machten sich auf in den äußersten Nordwesten
des Landes. Ihr Ziel
war das Tal von Dien Bien Phu, einer bis dahin bedeutungslosen
Durchgangsstation zwischen den nordvietnamesischen Bergen und dem
laotischen
Tiefland. Dien Bien Phu heißt übersetzt
»Große
Kreisstadt an der Landesgrenze«, war aber weniger eine Stadt als
vielmehr eine
Ansammlung kleiner Siedlungen in einem geräumigen Tal, an drei
Seiten von
schroffen, mit Gras und Bambus bewachsenen Bergen umschlossen und nur
in
Richtung Laos geöffnet. Diesen verlassenen Flecken hatten die
französischen
Militärs im Sommer 1953 ausgewählt, um dem Krieg gegen den
Viet Minh die Wende
zu geben. Seit fast acht Jahren schleppte sich
dieser Krieg (die Franzosen sprachen nur von groß angelegten
»Polizeioperationen«) schon hin, und es sah nicht gut aus
für die
Kolonialherren. Mit 70.000 Mann war
das französische
Expeditionskorps 1945
gelandet, nachdem Ho Chi Minh im September desselben Jahres –
die
japanische
Besatzungsmacht war abgezogen – die unabhängige Republik Vietnam
ausgerufen
hatte. Vor den Japanern hatte, seit 1862, Frankreich in Indochina
geherrscht,
und General Charles de Gaulle wollte
die koloniale gloire mit
Klauen und Zähnen verteidigen, nicht zuletzt,
um der Nation nach der militärischen Niederlage gegen
Nazideutschland wieder
neues Selbstbewusstsein einzuflößen. Jetzt, acht Jahre
später, drohte ein
Debakel. Während der Süden, das
spätere
Süd-Vietnam, noch zu weiten Teilen unter der Kontrolle der
Franzosen stand,
herrschten über die meisten Gebiete des bergigen Nordens und des
zentralen
Hochlandes bereits Ho Chi Minhs Truppen. Nur die Städte Hanoi und
Haiphong
wurden von den Franzosen gehalten, waren aber fast täglich
Angriffen der
Guerilla ausgesetzt. Es gab keine einheitliche Frontlinie, an der die
Kolonialtruppen ihre technische Überlegenheit hätten
ausspielen können,
stattdessen war jedes Gebüsch, jede Straße, jede
Hotelterrasse Front. Nun
drohte noch das gesamte nördliche Laos an den Viet Minh und die
mit ihm verbündeten
laotischen Kommunisten zu fallen. Über 45.000 Franzosen und
Fremdenlegionäre waren bereits tot, und täglich verschlang
der Krieg ungeheure
Summen. Nur durch massive Hilfe der USA konnte Paris den Kampf
weiterführen,
mittlerweile deckten die Amerikaner zwei Drittel der Kosten.
Gleichzeitig
demonstrierten in Frankreich Zigtausende gegen den Krieg; beinahe
wöchentlich
kam es zu Streiks. General Giap
soll gelächelt
haben, als die Franzosen in die Falle gingen General Henri Navarre, ehemaliger
Geheimdienstler und neu eingesetzter Oberbefehlshaber der
französischen Truppen
Indochinas, stand im Ruf, ein nüchterner, scharf berechnender
Stratege zu sein,
kein Mann für Abenteuer. Er wusste, dass der zermürbende
Partisanenkrieg nicht
mehr zu gewinnen war. Er suchte, wie er später schrieb, nach einem
»ehrenvollen
Weg aus dem Schlamassel«. Dafür brauchte Navarre einen
militärischen Erfolg.
Der musste so durchschlagend sein, dass Ho Chi Minh gezwungen war, die
Bedingungen aus Paris für einen Waffenstillstand anzunehmen: die
feste Bindung
Vietnams an Frankreich durch eine Mitgliedschaft in der
französischen Union. Zu
diesem Zweck wollte Navarre den Viet Minh endlich in eine offene
Feldschlacht
zwingen, und Dien Bien Phu schien dazu geeignet. Wer das Tal beherrschte, kontrollierte
den Weg nach Laos und schnitt Ho Chi Minhs Kämpfern eine wichtige
Rückzugsmög- lichkeit ab. Gleichzeitig war das Tal
weitläufig genug, um eine
mächtige Flugbasis zu errichten, von der aus Offensiven in die
Region
unternommen werden konnten, zum Beispiel an die chinesische Grenze.
Seit der
Machtübernahme von Mao Tse-tung 1949 hatte der Viet Minh im
Nachbarland
mächtige Freunde und somit reichlich Nachschubmöglichkeiten. Am Morgen des 20. November 1953 begann
die größte Luftlandeaktion
des Indochinakriegs. Innerhalb
von zwei Tagen
setzten 163 Flugzeuge mehr als 4.000 Fallschirmspringer ab. Der
Widerstand des
Viet Minh war gering, die Verluste der Franzosen auch, am Abend des 22.
November meldete man ins Hauptquartier die Einnahme von Dien Bien Phu.
Aus
Saigon kam die Anweisung, sofort mit den Arbeiten an der Landebahn zu
beginnen.
Dien Bien Phu sei zu einer Festung auszubauen und »um jeden Preis
zu halten«. Als der Oberkommandierende der
Viet-Minh-Streitkräfte General
Vo Nguyen Giap von der Landung der
Franzosen
hörte, soll er gelächelt haben. Sogleich habe er, der engste
Vertraute Ho Chi
Minhs, die strategischen Möglichkeiten erkannt, die sich aus
dieser Aktion
ergaben. Seit der ehemalige Geschichtslehrer Anfang der vierziger Jahre
mit 30
Anhängern – die Vogelflinte auf dem Rücken – zum
Guerillakampf gegen die
Japaner angetreten war, hatte er sein taktisches Geschick häufig
unter Beweis
gestellt. Unerbittlich nahm er dabei allerdings hohe Verluste in den
eigenen
Reihen in Kauf. Auch diesmal schonte der General seine
Männer nicht. Mehr als 50.000
Soldaten setzte er sofort Richtung
Dien Bien Phu
in Marsch, darunter auch die einzige »schwere
Division« der
vietnamesischen
Armee. Die mehr als 200 Granatwerfer und Artilleriegeschütze
dieser Division
stammten fast alle aus amerikanischer Produktion – ein Geschenk Mao
Tse-tungs
an seine vietnamesischen Genossen; die Rotchinesen hatten die Waffen
den
fliehenden Truppen Chiang Kai-sheks abgenommen. Giaps Soldaten
beförderten die
Geschütze nun, meist in Hunderte Einzelteile zerlegt, auf
umgebauten Fahrrädern
oder auf dem Rücken durch den Gebirgsdschungel. Die Franzosen
hatten keine
Ahnung, dass diese Waffen existierten. Noch weniger wussten sie, wie
beweglich
die Vietnamesen sie einsetzen konnten. Sie würden es bald erfahren. Auch Erwin Borchers zog mit den
Viet-Minh-Streitkräften nach Nordwesten. Die ersten Kilometer
legte er noch
bequem im Lkw zurück, bis das vorausfahrende Fahrzeug auf eine
Mine fuhr und
völlig ausbrannte. Selten war er dem Tod so nahe gewesen. Er wurde
zwar Chien
Si – der Kämpfer – genannt, seine Waffen waren aber eher die
Schreibmaschine
und die Druckerpresse. Klein, auf den ersten Blick etwas
grobschlächtig, besaß
er einen scharfen Verstand und ein geradezu enzyklopädisches
Wissen. Ein
Intellektueller, gläubiger Protestant und überzeugter
Sozialist, der in
Deutschland und Frankreich Germanistik und Romanistik studiert hatte.
Beim Viet
Minh war er Chef der politischen Propaganda und sollte sich
insbesondere um die
richtige Gesinnung der Kriegsgefangenen und der deutschen
Überläufer kümmern. 10.000 deutsche
Fremdenlegionäre
unterstützen die Kolonialtruppe Von diesen Deserteuren gab es 1954 eine
ganze Menge. Frankreich ließ
den unpopulären Krieg
verstärkt von
Frem- denlegionären führen, fast 20.000 kämpften
mittlerweile in Indochina, und
jeder Zweite war Deutscher. Junge ehema- lige Wehrmachtsoldaten
zumeist, die um
die 20 gewesen waren, als das »Dritte Reich« in
Trümmer gefallen war, und die
im Chaos der Nachkriegsjahre keinen Halt mehr gefunden hatten. Ohne
Arbeit,
ohne Ausbildung – sie hatten oft nichts anderes gelernt als
Kämpfen und Töten
–, sahen sie in der Fremdenlegion einen Ausweg aus der blanken
Trostlosigkeit. Indochina jedoch bot wieder nur Tod und
Entbehrung – und einen unerbittlichen Gegner, der wusste wofür er
kämpfte. »Was
mich fasziniert hat, war die Tatsache, dass diese jungen Soldaten,
keine 22
Jahre alt, lachend für Ho Chi Minh starben. Sie kannten keine
Angst vor dem
Tod. Du hast sie gehasst, weil sie etwas besaßen, das du nicht
verstanden und
erst recht nicht begriffen hast«, erinnerte sich
später ein
deutscher Legionär.
Der Blutzoll war hoch, bis 1953 waren schon 5.000 seiner Landsleute
gefallen. Mehrere hundert der jungen Deutschen
wechselten auf die andere Seite, manche freiwillig, manche, weil sie
dem harten
Los der Kriegsgefangenschaft entkommen wollten. Beim Viet Minh
erhofften sie
sich, auch verführt durch die Propaganda von Erwin Borchers,
besseres Essen, weniger
Drill. Die wenigsten liefen aus Überzeugung über.
Dementsprechend schwierig war
es, die Deserteure bei Laune zu halten, als sie erkannten, dass
Verpflegung und
Unterkunft auf der anderen Seite noch dürftiger waren. Viele
wollten wieder
zurück, einige versuchten zu fliehen, manche wurden standrechtlich
erschossen. Erwin Borchers hatte mit seinen
»Schülern« wenig gemein und für sie oft nur
Verachtung übrig. Mittlerweile fast
50, gehörte er einer anderen Generation von Überläufern
an, die schon Jahre zuvor
zum Viet Minh gestoßen waren. Sie zählten nur eine Hand
voll: Intellektuelle,
Linke, Antifaschisten, von den Zeitläuften um den halben Erdball
gespült. Immer schon »vom Politischen
besessen«,
war der Elsässer Student und Sozialdemokrat Borchers nach Hitlers
Macht- ergreifung in Frankfurt am Main zu einer Widerstandsgruppe
gestoßen, für
die er Flugblätter gedruckt und verteilt hatte. Nur knapp entkam
er den
Nazihäschern und floh nach Frankreich. Dort wollte er in die
Armee, um gegen
Hitler zu kämpfen, wurde aber abgelehnt, weil seine Mutter
»Frankreich
verraten« habe, als sie einen Deutschen heiratete. Stattdessen
steckte man ihn,
wie die anderen Deutschen und Österreicher auch, bei Beginn des
Krieges (der
Frankreich ja zunächst noch verschonte) in ein Internierungslager.
Man
betrachtete ihn als potenziellen Spion. Ihm und den anderen Insassen
machten
die Franzosen klar, dass der Beitritt zur Fremdenlegion der einzige
Ausweg sei,
um nicht bis Kriegsende hinter Stacheldraht zu sitzen. Am 16. September 1939 wurde Erwin
Borchers Legionär, so wie viele andere Flüchtlinge aus
Deutschland auch, die in
Frank- reich gestrandet waren, wie etwa der junge Rudolf Schröder.
Der Kölner
Soziologiestudent war 1933 nach Frankreich geflohen, weil er seinem
jüdischen
Professor nach dessen Absetzung durch die Nazis demonstrativ einen
Blumenstrauß
überreicht hatte und dann im Stürmer
denunziert worden war. Hoch begabt, arbeitete er in Paris zeitweise im
Auftrag
des exilierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung als
Assistent,
verdiente sich sein Geld aber auch als Teppichhändler und
Maschinennäher. Er
schloss sich der Legion an, nicht zuletzt, weil er hoffte, so gegen
Nazideutschland kämpfen zu können. Die antifaschistische Aura der Legion
verflog schnell. Schon von seiner ersten Station in Algerien aus, wo er
auch
Erwin Borchers begegnete, schrieb er in einem Brief von der
»völligen
Nutzlosigkeit, Dummheit und Brutalität des Lebens des
Legionärs Schröder«. Ein
Jahr später waren Borchers und er auf dem Weg nach Indochina. In
Vietri, 80
Kilometer nordwestlich von Hanoi, freundeten sie sich mit dem Wiener
Juden und
Kommunisten Ernst Frey an, der ebenfalls vor den Nazis nach Frankreich
geflohen
war. Die drei Freunde waren entsetzt über den Rassismus vieler
ihrer Offiziere
und vom politisch-militärischen Stil der Legion insgesamt. Sie
gründeten eine
kommunistische Zelle und nahmen heimlich Kontakt zum Viet Minh auf. Als
ihnen
klar wurde, dass Frankreich die Rekolonisierung Vietnams plante,
entschlossen
sie sich, auf die andere Seite zu wechseln. Eines Morgens, 1945, schickte der Viet
Minh eine amerikanische Limousine zur französischen Zitadelle in
Hanoi und
brachte die Überläufer direkt zum Hauptquartier des
vietnamesischen
Widerstandes. Dort warteten bereits die drei wichtigsten Helfer
Ho Chi
Minhs:
der spätere General Giap, Pham
Van Dong, der 1976 der erste
Premierminister des
wiedervereinigten Vietnams werden sollte, und Truong Chinh,
Generalsekretär der
kommunistischen Partei. Die Überläufer kamen wie
gerufen. Die
Führer des neuen Vietnam waren meist junge Intellektuelle und
Berufsrevolutionäre und hatten wenig Ahnung von
Militärstrategie oder
Verwaltungsorganisation. Ernst Frey, bei der Fremdenlegion umfassend in
Kriegstaktik ausgebildet, brachte es bis zum Oberstleutnant und einem
der
engsten Berater von General Giap. Mehrere Jahre lang hatte er als
Einziger
immer Zugang zum »Gottoberst«. Die beiden Intellektuellen
Borchers und Schröder
erhielten führende Aufgaben bei der Propaganda, so brachten sie
die erste
Zeitung des Viet Minh in französischer Sprache heraus. Der Einfluss der »neuen
Vietnamesen«, wie
man die Überläufer nannte, nahm allerdings schlagartig ab,
als die Chinesen ins
Land kamen. Mao Tse-tung schickte nicht nur massive materielle Hilfe,
sondern
auch Tausende Militärberater und Parteikader über die Grenze.
»Der Viet Minh
war vorher eine eher patriotisch-nationale Bewegung, wenngleich immer
in der
Hand der kommunistischen Partei, die allen Klassen offen stand«,
schreibt der
heute in Paris lebende Historiker Heinz Schütte, der die
Geschichte der
deutschen Überläufer erforscht und darüber kürzlich
auf einer Tagung des
Goethe-Instituts in Hanoi berichtet hat. Erst mit der Ankunft der
Chinesen
wandelte sie sich zu einer straff organisierten maoistischen Partei. Es
kam zu
Terror und Säuberungen und zu immer mehr Spannungen zwischen
Überläufern und
Viet-Minh-Oberen. Frey und Schröder verließen
schließlich entmutigt das Land in
Richtung Europa. Erwin Borchers blieb, mittlerweile
verheiratet und Vater von drei Kindern (vier weitere sollten folgen).
So war er
aktiv dabei, als der Viet Minh sich von einer kleinen Guerillatruppe zu
einer
schlagkräftigen Armee entwickelte und die Franzosen nach und nach
aus ihren
letzten Stellungen im Norden Vietnams vertrieb. Im Tal von Dien Bien
Phu traf
er Ende Februar 1954 ein. Dort herrschte noch Ruhe, die Stille vor dem
großen
Sturm. 16.000
Soldaten der Kolonialarmee,
darunter Tausende deutsche Fremdenlegionäre, hatten sich tief in
einem
unendlichen Labyrinth aus Stacheldraht, Minenfeldern und
Geschützstellungen
eingegraben und warteten gelassen auf den Angriff des Viet Minh. Eine
Woche
zuvor hatte noch der französische Verteidigungsminister die
Stellungen
besichtigt und sie als »uneinnehmbar« bezeichnet. Was er
nicht wusste:
Inzwischen waren die besagten 200 schweren Artilleriegeschütze auf
die
umgebenden Berghänge geschafft worden, in metertiefen
Stollen vor
den
feindlichen Flugaufklärern versteckt. Kein französischer
Militär hatte das auch
nur für möglich gehalten. 57 Tage dauert
der mörderische
Kampf, dann geben die Franzosen auf Als General
Giap am 13. März den
Befehl
zum Angriff gab, trommelten gleich in der ersten Nacht über
9.000
Geschosse und
Granaten auf die völlig überraschten französischen
Stellungen. Die ersten
Außenposten fielen sofort. Die
Bergfestung war zur tödlichen
Falle geworden.
Der Befehlshaber der französischen Artillerie schoss sich eine
Kugel in den
Kopf, als er begriff, dass er den Gegner dramatisch unterschätzt
hatte. Unter
dem Schutz des eigenen Geschützfeuers trieben die Kämpfer des
Viet Minh eine
Unzahl von Gräben in die feindlichen Linien, von denen aus sie die
Stellungen
der Franzosen überrannten. Am Ende erstreckten sich diese Stollen
über 400
Kilometer. Menschenwelle um Menschenwelle schickte Giap gegen die
feindlichen
Stellungen – die Verluste des Viet Minh waren fast viermal so hoch wie
die des
Gegners. Ein Bunker nach dem anderen fiel. Verzweifelt flogen die
französischen
Militärs Verstärkung und Nachschub in den Kessel, doch die
Schlinge zog sich
immer enger. Auch Borchers und seine
Propagandatruppe
kamen jetzt zum Einsatz. Zwischen zwei Granatangriffen riefen sie
über
Laut- sprecher die Fremdenlegionäre und nordafrikanischen
Hilfstruppen auf, die
Waffen niederzulegen. Allerdings ohne großen Erfolg. Der
Journalist Peter
Scholl-Latour lässt später einen Augenzeugen berichten, dass
»am Ende nur die
Fremden- legionäre, zu 80 Prozent Deutsche, und die
Fallschirmjäger bis zum
letzten Erdloch und bis aufs Messer gekämpft«
hätten.
Die Legionäre seien
angetreten, »wie in einer
mythischen Gotenschlacht«. Am 7.
Mai 1954, 57 Tage nachdem die
erste
Granate eingeschlagen war, ergab sich der letzte Kommandoposten der
Franzosen.
Die Schlacht war zu Ende. Der Viet Minh hatte mehr als 20.000 Mann
verloren,
auf französischer Seite waren über 6.000 Soldaten gefallen,
darunter Hunderte
von Deutschen. Noch einmal so viele sollten in
vietnamesischer Kriegsgefangenschaft an Hunger und Erschöpfung
sterben. Es war
der letzte französische Blutzoll in diesem Krieg. Einen Tag nach der Niederlage
bei Dien Bien Phu begannen in Genf die Verhandlungen über einen
Waffenstillstand, die am 20. Juli ihren Abschluss fanden. Das
französische
Kolonialreich in Indochina hatte aufgehört zu existieren. Für Erwin
Borchers war die Begleitung der
über 10.000 Gefangenen in die Lager des Viet Minh die letzte
militärische
Aufgabe. Er bekam einen Posten im Propagandaministerium, später
schrieb er für
die DDR-Nachrichtenagentur ADN in Hanoi. 1965 zog er mit seiner Familie
nach
Ost-Berlin. Hier arbeitete er als Rundfunkjournalist, bis er sich 1968
zu offen
für den Prager Frühling begeisterte und Schwierigkeiten mit
der Obrigkeit
bekam. Schließlich floh Erwin Borchers nach West-Berlin, wo er
1984 starb. Zu
gerne wäre er nach Straßburg, in die Vaterstadt,
heimgekehrt. Doch das ging
nicht; denn dort hätte man ihn verhaftet und abgeurteilt – als
Deserteur und
Verräter.
Der Autor ist Journalist und lebt in Hanoi |