Derriere.de | 21. Dezember 2002:

Mehr als Musik

Die Rap-Szene in Deutschland

Der deutsche Rap entwickelt sich weiter, die Szene ist im Wandel. Nach den Massiven Tönen, den Absoluten Beginnern und den Spezialistz’
erschienen in den vergangenen zwei Jahren viele neue MCs auf der Bildfläche.

Die innovativen Stücke der Alteingesessenen aus München, Berlin, Hamburg und Köln hatten im Laufe der Zeit eine HipHop Begeisterung ausgelöst,
in Wirklichkeit war es aber eher ein Rapboom. Die Konzerte waren ausverkauft, solange der Name des Künstlers durch Magazine und das Fernsehen
bekannt war, und die Marketing-Artikel fanden reißenden Absatz. Die Qualität und Echtheit der einzelnen Künstler und Gruppen wurde selten von
den HipHop-Interessierten geprüft. Solange der Beat eine gewisse Bassstärke besaß und der Künstler auf der Bühne das obligatorische Baseball-Cap
auf dem Kopf sitzen hatte, wurde er von einem großen Teil der Fans akzeptiert.

Immer neue HipHop-Acts schossen aus dem Boden, die die Szene jedoch qualitativ kaum bereicherten. Es entstand eine Art Überangebot, die
großen Plattenfirmen verloren zuweilen den Überblick und förderten die „falschen“ Künstler.

Die Geister der Kopfnicker schieden sich beispielsweise an dem Hannoveraner „Philie MC“ und seiner Single „Unkraut“, in der er sich mit dem
Rassismus auseinandersetzt. Betrachtet man sich diesen scheinbar aus dem Nichts kommenden Interpreten etwas genauer, so wird deutlich, dass er
in den vergangenen Jahren in Sachen HipHop überhaupt nicht in Erscheinung getreten war. Hat sich dieser junge Rapper des Themas Rassismus in
seinen Lyrics nur angenommen, um aus der Masse herauszustechen und die Aufmerksamkeit der Medien für einen kurzen Moment an sich zu ziehen?

Die Antworten,  die die Plattenindustrie auf diese Fragen gab, stellte die Fangemeinde nicht zufrieden. Wie auch immer: Philie MC stieg mit seiner
Single schnell in die Charts ein und flimmerte immer öfter über die Mattscheibe. Einige Medienwächter trugen durch ihren Vorwurf, der Rapper würde
in seinem Text zur Gewalt gegen den rechten Mob aufrufen, zu seinem Aufstieg bei.

Doch Philie MC verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. Er konnte sich nicht durchsetzen in der HipHop-Szene – sein Album floppte und nach
wenigen Monaten hatte man ihn vergessen.

Sein Können am Mikrofon  reichte nicht aus und der Mensch an sich wirkte nicht authentisch. Dass er angeblich schon lange im Sprechgesang aktiv
war, nahm ihm keiner ab, der sich in der Szene auskannte.

Für viele ist Philie MC das Spiegelbild einer Reihe von deutschen HipHop Acts, die den Hype nutzen wollten, um auch an Stück vom Kuchen zu
bekommen.

Der HipHop Boom nimmt ab - aber gute Bands setzen sich mit kritischen Texten durch

Der deutsche Rap reinigt sich ganz langsam selbst. Der Großteil der Fans weiß sehr genau, wer es ernst meint, bei wem die Lyrics auf eigenen
Erfahrung und Einstellung basieren,  wessen Musik einen langen und geduldigen Entstehung- und Reifeprozess hinter sich hat und wer lediglich einen
08/15  Beat verwendet, der zum tausendsten Mal wiedergekäut wird.

Die oft hektisch produziert wirkenden Platten verkauften sich immer schlechter und folglich unterstützen die Plattenfirmen weniger Acts. Die Spreu
trennte sich von Weizen  - vielen sind einfach nicht fähig, eine spannende Geschichte zu erzählen und einen guten Battle-Text zu schreiben; viele
Rapper mussten aufgeben.

Die jungen HipHopper machen auf sich aufmerksam

In die Lücke, die die „Faker“ und „Wannabe MC`s“ hinterlassen, stößt der talentierte und wirklich ehrgeizige Teil des deutschen Rap-Nachwuchs
jetzt hinein. In ganz Deutschland nehmen die etablierten Rapper  die jungen Talente an die Hand und bieten ihnen ein Forum, sich einem Publikum zu
präsentieren – sei es nun durch die erste Veröffentlichung auf einem kleinen Label, als Vorgruppe auf einer Tournee oder als Gast auf großen
Festivals wie dem alljährlichen „Flash“ in Hamburg oder dem „Splash“ in Chemnlitz.

So schaffte es der 19-jährige Mönchengladbacher Eko mit Hilfe seines Berliner Freundes und Mentors Kool Savas sich im Laufe der letzten eineinhalb
Jahre bundesweit einen Namen zu machen. Inzwischen ist er vollwertiges Mitglied der Optik Crew, trat auf mehreren Festivals auf und hat sich als
MC deutlich weiterentwickelt. Der Lohn seiner Arbeit: ein Plattenvertrag bei dem BMG Unterlabel „Optik“ – gegründet und geleitet von King Kool
Savas (KKS).

Der Rapstil ähnelt hier sehr oft dem von Kool Savas – ob er sich da seinem Vorbild anbiedert, müssen die Fans bewerten.

Nicht nur in Berlin, auch in Hamburg wächst die nächste Generation der „derben“ Rapper heran. Da wäre etwa der 19-jährige Roman aka „Twisted“.
Sein im Frühjahr diesen Jahres erschiene Tape „Sprache der Straße“ verkaufte sich gut und lässt die außergewöhnlichen Fähigkeiten des
Hamburgers erkennen. Als Sohn eines rumänischen Musikers und ehemaliges Mitglied der „Red Lord Squad“ stehen diesem Ausnahmetalent  alle Tore
offen....

Neben den Neulingen kommen in letzter Zeit auch die geduldigen Mittzwanziger zum Zuge, die schon lange HipHop leben und rappen, sich bisher
allerdings nur lokal einen Namen machen konnten. So erreichte Paolo 77 mit seinem ebenfalls auf Eimsbush erschienen Tape „Weitersagen“ das hohe
Niveau seiner Kollegen Illo 77 und Denjo von den Absoluten Beginnern, obgleich er sich bewusst in vielerlei Hinsicht von seinen gleichaltrigen Kollegen
unterscheidet. Ob Battle-Text oder Lebensgeschichte – Paolo´s Album ist vielschichtig und nimmt die Stimmungen des Arbeiterviertels Falkenried in
seine Texte auf. Die verschiedenen Einflüsse des Falkenrieds, trieben auch die kreative Ader Paolo´s Bruder Marino an, so dass dieser im Jahr 2002
im Alter von 27(!)  Jahren seine erste EP „High Fidelity“ auf dem familieneigenen Independent Label „Hoheluftbrücke“ herausbrachte.

Die sieben Tracks der CD heben sich durch die Beats, den ungewöhnlichen Flow und die Lyrics von den gewohnten Werken der Hamburger ab. Son
Marinos Art zu rappen kommt frisch daher und beweist, dass längst nicht alle CD´s und Schallplatten, die in Hamburg produziert und aufgenommen
werden, typisch nach „Hamburg City“ klingen.

„Falkenried – Gebiete wo es kein Halten gibt“

 (Auszug aus Paolo 77´s „Von Küste zu Küste“ aus dem Album „Weitersagen“ – Eimsbush Tape Nr. 13 )

Wo andere längst aufgegeben und sich bei RTL II gemeldet haben, setzten Paolo und sein Bruder weiter nach und arbeiteten hart an sich. Paolo
machte Musik zum Mittelpunkt seines Lebens. Keine Frage, er hat Talent und schreibt gute Texte. Marino geht die Sache auf ganz andere Weise an:
Rap ist für ihn Entertainment und Hobby.

Schon damals als Red South Mob waren die beiden zusammen mit den anderen Crew-Mitglieder in der Lage, realistische Texte und Ohrwurm-Beats
miteinander zu verbinden und erschlossen sich so ein Publikum.

So erscheint der Refrain „Amerika, das Land der Träume ...“ in Beziehung auf die Außenpolitik des George W. Bush heute schärfer und sarkastischer
den je.

„Ich spreche die Sprache des Herzens/ ...“

(Auszug aus Paolo 77´s „Falsche Fünfziger“ aus dem Album „Weitersagen“ – Eimsbush Tape Nr. 13 )

Die deutschen Nachwuchstalente besitzen neben einer Menge guter Raps, mehr oder weniger guten Texten, Humor und einem Hang zur
Übertreibung vor allem einen klaren Blick auf die Probleme unserer Gesellschaft.

Die Rapper nehmen kein Blatt vor den Mund

Mallorca als siebzehnter Bundesstaat, die umstrittene Außenpolitk der USA sowie ein Staatsapparat, der mehr einem Big Brother Regisseur denn
einem Sozialstaat ähnelt sind nur einige der Themen, die sie behandeln. Die selbstbewussten Musiker trauen sich an alles heran, was in den
Schöne-Heile-Welt-Songs der meisten Popsternchen verpönt ist und beleben somit wieder die große Stärke des HipHops – es ist ehrliche und
authentische Musik.

Nach dem Chart-Erfolg „Weck mich auf“ diskutierte Samy Deluxe im NDR mit Guido Westerwelle über die Probleme der Bundesrepublik. Von
Politikverdrossenheit oder dem „TV-Total-Lukas-Syndrom“ ist bei dem Weckada MC nichts zu merken.

Die verschiedenen Teilbereiche der in jüngster Vergangenheit oft als ausverkauft bezeichneter  Szene ergeben ein buntes Mosaik, entwickeln als
Ganzes jedoch eine starke Kraft. Xavier Naidoo  besticht weiterhin durch seine tolle Stimme und auch der R n´B hat sich in Form von J-Luv in
Deutschland etabliert.

Joy Denalane und das Sister Keepers Projekt bereichern in Form von Souleinlagen im Stile von Ashanti nicht nur die Tracks ihrer Homies – auch ihre
eigenen Musik ist schön anzuhören.

Kool Savas ist eine Klasse für sich, seinen eigenen Stil hat er beibehalten. Sein Wortwitz ist noch prägnanter geworden, seine Lyrics haben an
Qualität gewonnen. Auch die Features machen das Album des Berliners „Der beste Tag meines Lebens“ zu einer in sich sehr stimmigen und wirklich
guten HipHop-Platte.

D-Flame hat ebenfalls neue Tracks gebastelt und berichtet auf „Daniel X – Eine schwarze deutsche Geschichte“ von positiven und negativen
Erlebnissen in seinem Leben bzw. in seiner Karriere. Dieses fast schon autobiographisches „Konzeptalbum“ ist mit Sicherheit auf der selben Skala wie
Überfall und Bambule anzusiedeln.

Deutschsprachiger Rap hat wieder ein sehr hohes Level erreicht. Von den Nachwuchs-Künstlern kann man noch vieles erwarten. Bleibt zu hoffen,
dass sie ihren Stil finden und sich nicht von schnelllebigen Moden mitreißen lassen.

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