Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker



Was einmal gedacht wurde,
kann nicht mehr zurückgenommen werden

Drei Physiker leben im ansonsten vor allem von der eigenen debilen Verwandtschaft bevölkerten noblen Sanatorium der Mathilde von Zahnd: Johann Wilhelm Möbius, der behauptet, ihm erschiene der Geist des König Salomos und offenbare ihm das System aller möglichen Erfindung, sowie zwei Kollegen, die sich für Isaac Newton und Albert Einstein halten. Harmlose Irre, wie die Anstaltsleiterin den Kriminalkomissar zu beruhigen versucht, der kurz nacheinander drei Mal in das "Irrenhaus" gerufen wird, weil ein Physiker nach dem anderen seine Pflegerin umbringt.

Doch nach und nach stellt sich heraus, daß keiner der drei Physiker wirklich verrückt ist. "Newton" und "Einstein" sind Agenten der zwei großen Geheimdienste, deren Auftrag es ist, Möbius auszuspionieren, den sie für den genialsten Physiker der Gegenwart halten. Und tatsächlich gibt Möbius mit dieser Tatsache konfrontiert zu, er habe "das Problem der Gravitation gelöst", habe die einheitliche Feldtheorie entdeckt und so ganz nebenbei, als praktisches Kompendium zu seinen weltbewegenden Erkenntnissen, stellte er das System aller möglichen Erfindungen auf. Doch all seine Unterlagen habe er wieder verbrannt.

"Newton" und "Einstein", beide selbst bekannte Physiker, sind von dieser Eröffnung nur kurz geschockt, dann besinnen sie sich ihres Auftrags und versuchen Möbius mit Versprechungen, mit Drohungen, mit Waffengewalt auf ihre Seite zu ziehen. Doch sie stehen sich in einem Patt gegenüber. Als Möbius sie fragt, wie es um die Freiheit der Forschung in ihrem System stehe, müssen beide eingestehen, dass sie stets der Landesverteidigung untergeordnet bleibt. Und auch sie mussten ihr Privatleben ihrem Auftrag unterordnen, als sie beide ihre Pflegerinnen, die sich in sie verliebt hatten und begonnen, sie zu durchschauen, umbringen mussten.

Da erklärt ihnen Möbius seine Beweggründe, warum er seine Forschung, sein freies Leben, Frau und Familie im Stich lassen musste, um sich in einer Anstalt einkerkern zu lassen, warum auch er schließlich seine Schwester Monika umbringen musste, als sie ihn nicht mehr für verrückt hielt sondern an ihn glaubte, ein Leben mit ihm außerhalb der Anstalt beginnen wollte, ja sogar seine ihm angeblich von König Salomo diktierten Forschungsarbeiten anderen Wissenschaftlern vorlegen: Er wusste nur zu gut, was die Welt mit den Waffen anrichten würde, die er ihnen ermöglichte. Seine Verantwortung zwang ihn statt des Ruhms und Reichtums, den ihm seine Erfindungen ermöglicht hätte, vor der Welt zu fliehen:

"Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren gestoßen. Wir haben das Ende unseres Weges erreicht. Aber die Menschheit ist noch nicht soweit. Wir sind ins Leere gestoßen. Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnisse tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen. Es gibt keine andere Möglichkeit, auch für euch nicht. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff. Entweder bleiben wir im Irrenhaus oder die Welt wird eins. Entweder löschen wir uns im Gedächtnis der Menschheit aus, oder die Menschheit erlischt."

Tatsächlich gelingt es ihm, die beiden zu überzeugen, lebenslang in der Anstalt eingesperrt zu bleiben: "Wir sind wilde Tiere. Man darf uns auf die Menschheit nicht loslassen." Sie erheben das Glas auf ihre Krankenschwestern, die sie opfern mussten, einen kurzen Moment mit sich im Reinen und glücklich: "Verrückt, aber weise. Gefangen, aber frei. Physiker, aber unschuldig."

Dann tritt Mathilde von Zahnd wieder auf den Plan. Statt der Krankenschwestern wird sie plötzlich eskortiert von einer uniformierten Armee, die Fenster werden verriegelt, die Villa von Wärtern umstellt. Und dann eröffnet sie ihren drei Patienten, auch ihr sei der goldene König Salomo erschienen, den Möbius verraten hätte, indem er verschweigen wollte, was nicht verschwiegen werden konnte. In seinem Auftrag solle sie die Weltherrschaft übernehmen. Über Jahre hinweg hat sie Möbius' Unterlagen kopiert, hetzte die Krankenschwestern auf die drei, bis sie in den Augen der Öffentlichkeit zu dem wurden, was sie niemals waren: geisteskranke Irre, Mörder noch dazu, denen man kein Wort glauben wird. Die drei begreifen: "Die Welt ist in die Hände einer verrückten Irrenärztin gefallen." Und Möbius spricht die Quintessenz des Stückes aus: "Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden."

In seiner eigenen stichwortartigen Interpretartion seines Theaterstücks, den "21 Punkten zu den Physikern", schreibt Dürrenmatt: "Eine Geschichte ist erst dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat." Und: "Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht vorraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein." Damit fasst er nicht nur die Theorie zu seinem eigenen Werk in wenigen Worten zusammen, damit stellt er auch die Frage nach der Atomforschung in einer weit größerem Umfang, als sie die meisten Atomforscher und Staatsmänner für sich selbst je zuließen, in dem sie stets Wahrscheinlichkeiten abschätzten, in dem sie auf der Logik ihrer Handlung (und der eines potenziellen Widersachers) bauten: "Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen." Bezogen auf Möbius' ehrenhaften Versuch, sich der Weltgeschichte in den Weg zu stellen, vertritt er die These: "Jeder Versuch eines einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern." Gleichzeitig stellt sich die Fragwürdigkeit einer solchen These, wenn sich die Allgemeinheit eines solchen Problems nicht stellen will. Und so klingt sein letzter Punkt auch eher pessimistisch: "Die Dramatik kann die Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder gar sie zu bewältigen."