|
Ich über mich | Olympia 1972 |
|
|
|
|
Texte |
|
Mein Zimmer Mein
Zimmer liegt auf einem Berg, umgeben
von Wiesen. Ich bin gerne da; am Nordrand türmt sich ein Wald auf,
dahinter die Bergkämme der Alpen, noch mit Schnee bedeckt. Es ist
heiß
und die feuchte
Luft treibt mir Wasser auf die Stirn. Es muss ein tropisches Land
sein, das sich so an mich drängt. Ich
mache mir keine Gedanken über die Geographie. Mein Zimmer ist
geräumig, ich habe mein Bett und meine anderen Möbel. Diesen
Morgen aber verlieren sie sich bräunlich im Hintergrund, denn
heute finde
ich ein zweites Bett.
Eine Frau scheint es zu belegen; ihr Geruch hängt noch in
der Luft.
Über ihrem Bett stehen in einem Wandregal mehrere Bücher,
deren Titel ich nicht
lesen kann, große und kleine, dickleibige und schmale. Die Frau
hat das Zimmer
eben verlassen, ihr Bett ist nicht gemacht, das Kopfkissen warm.
Während ich mit ruhiger Hand darüber streiche, kriecht aus
der Wand ein Tier von der Größe einer
Heuschrecke - man weiß ja nicht, was man in den
eigenen Wänden beherbergt. Stachlig, doch
höchst beweglich mit zehn Beinen, funkelt es mich
an, bereit zum
tödlichen
Stich. Mich wird es nicht angreifen, denke ich, mir gehört das
Zimmer, aber
auf die Frau lauert es, und darum muss ich es
vernichten. Mit der Hand kann ich es nicht zerdrücken. Ich
entscheide mich deshalb
dafür, es mit einem Buch zu erschlagen, aber so weit ich den Arm
auch ausstrecke, ich kann die
Bücher nicht erreichen,
mein Arm ist zu kurz. Ein Stück Papier, mehrfach gefaltet, muss
mir den Feind
vom Hals schaffen. Mehrere Male schlage ich so auf das Tier ein; es
wird kleiner;
ein langes, fadendünnes Bein bleibt auf dem noch warmen Bett
liegen; der Rest
des Tiers entzieht sich; ich versuche es mit einem anderen Gegenstand,
aber ich
finde keinen, trotzdem das Zimmer voller Gegenstände ist; das
beschädigte Tier,
immer noch bedrohlich die Stacheln aufstellend, verschwindet irgendwo
zwischen
Bett und Wandregal. Ich muss die Frau retten, sie kann sich doch so
nicht
wieder in
ihr Bett legen, vielleicht sollte ich es der Reiseleitung melden.
Während ich
Kopfkissen und Bettdecke lüfte und mich vorsichtig dem Regal
nähere, kriecht
das Tier wieder aus der Wand. Es hat sich verwandelt; noch eher
aber ist es
ein zweites Tier, das mir entgegen arbeitet, während das erste in
der Mauerritze
wartet, bereit zum Gift einflößenden Stich. Das Tier
hat jetzt die Größe einer Maus und die Form eines
Schweins oder einer großen Kellerassel. Der dunkelgraue
Rückenpanzer ist der Länge
nach von Rillen durchzogen. Ich nehme zwei Bücher aus dem Regal
und locke das
Tier. „Komm, komm“, flüstere ich ihm freundlich zu, und neugierig,
wie diese
Tiere sind, kommt es auf mich zu. Jetzt zuschlagen; zwei Bücher
nehmen und das
Tier zerdrücken; frisch auf! wenn du jetzt nicht triffst, dann
triffst du nie
mehr.
Zwischen meinen beiden Büchern eingeklemmt windet es sich,
aber es gibt
nicht auf; es lässt sich nicht zerdrücken; es ist aus Gummi
oder vielleicht aus
einem dieser Kunststoffe, die nie rückstandslos verbrennen. Es
wird platt,
breit, aber kein Blut tritt aus, grünliche Körpersäfte,
vermischt mit
schwärzlichen fadendünnen Beinteilen, herausgerissen und
abgetrennt durch den
Druck der Buchkanten, erwarte ich vergeblich. Ich muss dickere
Bücher nehmen;
erst dicke Bücher vermögen dieser Plage Herr zu werden. Ich
löse den Druck, das
Tier nimmt wieder seine rundliche Gestalt an. Ich kann hier nicht
bleiben. Soll
die Reiseleitung sich darum kümmern - was geht mich das Bett der
fremden Frau
an? In diesem Zimmer werde ich nicht mehr schlafen. Ich muss fort, und
ehe ich
den Gedanken beendet habe, stehe ich in einem großen,
verwinkelten Gebäude mit
vielen Zimmern und Fluren und ich weiß, ich werde nie mehr in
mein Zimmer zurückkehren. Und käme ich doch, ich
wäre ein anderer, ein Fremder in meiner eigenen Wohnung, nicht
mehr und nirgends zu Hause, und in meinem Bett würde einer
liegen, neben sich ein zerquetschtes Tier, aus dem langsam eine
dickliche grüngelbe Flüssigkeit austritt und
große Buchstaben auf den Boden malt. ************************ 23 Kilometer Es ist
eine Lehranstalt. Auf dem langen Flur drängen sich zwei
große
Gruppen von Schülern und suchen einen Raum. Vierzig Kinder, die
auf
Lateinunterricht warten. Ihnen gegenüber dreißig Kinder, die
belehrt werden
wollen. Freilich wissen sie nicht worin, aber auch sie haben Anspruch
auf einen
Raum. Der Lateinlehrer, ein kleiner junger Mann mit
entschlossenem
Gang, weiß eine Lösung; er kennt einen großen Saal,
der jeder Bildung
zugänglich ist. „Wie
viele seid ihr?“, frage ich die dreißig anderen Kinder.
Sie blicken mich erwartungsvoll an. „Wir
sind nur elf!“ Dreißig
oder elf - ich muss mich getäuscht haben, das Zählen
fällt mir schon schwer, aber freundlich teile ich ihnen mit, dass
ich eine Lösung
für sie habe. „Wir
gehen in den Arbeitsraum.“ Ich gehe
voraus, durch einen Flur mit großen Fenstern. Sie
folgen mir bis zu der verschlossenen Tür, auf die Holzlatten quer
und längs
genagelt sind. Links davor der Eingang zur Küche; auf der breiten
Tischplatte
eine verkrustete Kaffeemaschine; davor mehrere Tassen, ungespült,
mit
schwärzlich-braunem Bodenbesatz dem Ende entgegen schimmelnd. Ich
öffne die Tür zum Arbeitsraum. Er ist viel größer,
als
ich dachte, und da sitzen auch die, die mir eben noch gefolgt waren -
Jüngere
unter Älteren, auffällig sich abhebend, aber ruhig und in
höflicher Erwartung
auf mich blickend. „F.“,
rufe ich, „komm doch bitte!“ B. hebt
den Arm, steht auf, schlängelt sich über Bänke und
Körper, will zu mir. Ich wehre ihn ab. „Nein,
du nicht! Ich sagte doch M.!“ Nun
steht Y. auf, küsst M. auf den Mund, nicht heftig, nur ein Druck
trockener Lippen auf trockene Lippen, und zeigt sich
bereit mir zu folgen. Ich nehme ihn an meine Seite, er ist etwas
unsicher, denn
wir stehen ja auf der Straße, an einer riesigen Kreuzung. Ich bin
in dieser Stadt nicht zu Hause, es ist
eine fremde
Stadt, wahrscheinlich eine chinesische, aber noch wahrscheinlicher
Moskau.
Unser Fahrer, ein kleiner, schwarzhaariger Mann in ärmlicher
Kleidung, mit schütterem,
von grauen Strähnen durchsetzten Haar, erklärt uns, dass wir
nie die andere
Straßenseite erreichen würden - der Verkehr sei zu dicht und
werde auch in den
nächsten Jahren nicht abnehmen. „Wir
fahren in die andere Richtung. Es sind 23 Kilometer, es ist die falsche
Richtung, aber die Straßen sind wenigstens frei.“ Und in
der Tat - während in der Gegenrichtung die Fahrzeuge
in Viererreihen sich fußläufig voran bewegen, zum Stillstand
kommen, stehen, warten,
um Zentimeter weiter vorrücken, wieder stehen, ist die
Straße vor uns rein und
leer. Im glatten Straßenbelag spiegelt sich das Mondlicht. Wer
wagt hier zu
bremsen auf so glattem Untergrund? Der
Kleinbus bewegt sich gleichmäßig vorwärts, von keinem
anderen Fahrzeug im Fortkommen gehindert. „Dreiundzwanzig
Kilometer“, wiederholt der Fahrer. „Ich
mache das immer. Die falsche Richtung ist ja der direktere Weg.“ Ich
nicke, aber meine Zweifel bleiben. „Wie
aber, wenn wir trotzdem bremsen müssen? Die Straße ist
glatt wie Eis. Werden wir jemals zum Stillstand kommen?“ „Mein
Fahrzeug sieht nur alt aus, aber es ist technisch, wie es sein soll.
Die Reifen sind neu, die Heizung
funktioniert, die schwarzen
Flecken am Rand der Windschutzscheibe sind ohne Bedeutung.“ Und
damit beginnt er, weit nach rechts und links ausholende
Lenkbewegungen zu machen, eine Schlangenlinie zu fahren - und
tatsächlich: Der
Wagen bleibt in der Spur, er schleudert nicht, wir können
unbesorgt
weiterfahren. Auch das steil ansteigende Rollband, das uns nun nach
oben befördert, scheint dem Fahrer
keine
Sorgen zu bereiten, selbst in dem Moment nicht, als es plötzlich
stehen bleibt. „Sind
wir zu schwer?“, frage ich, noch nicht wirklich
beunruhigt. „Nein“,
antwortet der Fahrer, „es geht gleich weiter. Wir
müssen nur ein wenig schieben.“ Er
öffnet das Fenster, legt die Hand an den linken Handlauf
des Förderbandes, drückt sich etwas nach hinten ab und
tatsächlich, das Band
setzt sich wieder in Bewegung. Ganz oben, wo die Steigung endet und die
Ebene
beginnt, führt die Straße unmittelbar in ein Geschäft.
Die Tür ist nicht sehr
breit, aber wir fahren durch ohne etwas zu beschädigen. Innen
erkenne ich Reifenspuren - ja, zweimal im rechten Winkel
geht es
durch das Geschäft und zur anderen Tür wieder auf die
Straße. Hinter
der dunkelbraunen Theke links sitzt eine ältere
Frau, das Gesicht quadratisch und faltig, die Haare aschblond, die Nase
kräftig und in
leichter Krümmung nach innen weisend. Sie
spricht Deutsch, ohne Fehler: Sie sei Jüdin, berichtet
sie, und während sie redet, erkenne ich, dass die Stadt wirklich
Moskau ist. Wann sie
hierhin gekommen sei, will ich wissen. 1933? Sie
bejaht. 1933 sei sie geflohen, und 1958 habe man sie mit
der Leitung dieses Geschäfts, eines Andenkenladens, betraut. Sie
sei nicht die Besitzerin,
aber sie sei inzwischen selbst eine Sehenswürdigkeit in dem
Stadtviertel. Wie um
dies zu
bestätigen, betritt ein größere Gruppe von Touristen
das Geschäft, kleinäugig und gelbhäutig, fest
entschlossen,
Erinnerungsstücke an ihr Hiersein zu erwerben. Noch versuche ich
herauszufinden,
welche Sprache gesprochen wird, da sehe ich auf der Straße im
Sonnenlicht eine
Gruppe junger Menschen, aus denen groß und blond D.
herausragt. Er
wohne, teilt man mir mit, inzwischen auch in diesem Viertel. Während
ich darüber nachsinne, wie viel Zeit er wohl für den
täglichen Weg zur Arbeit aufwenden müsse, verschwimmt das
Bild. Mein Fahrer ist
nicht mehr da, das Fahrzeug ist verschwunden, die Ladenbesitzerin
schaut mich
aus tückischen Augen an - wo bin ich, wo bleibe ich? Wer
führt mich zurück, da es nach vorne keinen Weg mehr gibt? 10/2004 |